Entscheidungsstichwort (Thema)
Postulationsfähigkeit des Vertreters des FA; beratender Betriebswirt als Gutachter für Versicherer
Leitsatz (NV)
1. Art. 1 Nr. 1 Satz 3 BFHEntlG läßt zur Vertretung vor dem BFH nicht nur den Vorsteher und dessen ständigen Vertreter zu, wenn sie die Befähigung zum Richteramt haben, sondern auch andere, entsprechend befähigte Beamte und Angestellte.
2. Ein Betriebswirt mit akademischer Ausbildung kann freiberuflich tätig sein, wenn er als Gutachter für Versicherungsunternehmen Betriebsunterbrechungsschäden ermittelt und die geschädigten Unternehmer bei der ihnen obliegenden Pflicht zur Schadensminderung berät.
Normenkette
BFHEntlG Art. 1 Nr. 1 S. 3; EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Einkünfte des Klägers und Beschwerdegegners (Kläger) aus seiner Tätigkeit als Sachverständiger für Betriebsunterbrechungs- und Vorräteschäden den Einkünften aus selbständiger Arbeit oder aus Gewerbebetrieb zuzuordnen sind.
Der Kläger ist promovierter Diplom-Kaufmann. Er wird als Sachverständiger zumeist im Auftrag von Versicherungsunternehmen, aber im Einzelfall auch von den geschädigten Unternehmen selbst tätig. Zudem wird er von Gerichten und Behörden (Gemeinden, Staatsanwaltschaften etc.) mit der Erstellung von Gutachten zur Schadenshöhe beauftragt. Die Gutachten dienen den Auftraggebern als Basis für die Entscheidung, in welchem Umfang der Geschädigte Ersatz verlangen kann.
Anlaß für die Einschaltung des Klägers sind meist größere Brand-, Wasser- und ähnliche Schäden in gewerblichen Betrieben. In diesen Fällen ermittelt der Kläger zunächst den Wert der vernichteten oder beschädigten Wirtschaftsgüter vor und nach dem Schadensfall. Sodann stellt er namentlich bei Betriebsunterbrechungsschäden Überlegungen und Kalkulationen an, wie die wirtschaftliche Situation des geschädigten Unternehmens sich ohne den Eintritt des Schadens entwickelt hätte. Die für Versicherungsunternehmungen erstellten Gutachten befassen sich auch damit, mit welchem Erfolg welche Maßnahmen zum Zweck der Schadensminderung ergriffen oder weshalb bestimmte Maßnahmen unterlassen worden sind. Ggf. erstellt der Kläger Zwischenberichte, in denen er den gegenwärtigen Stand der Entwicklung und die weitere Planung darstellt und die voraussichtliche Schadenshöhe prognostiziert.
Die Kläger sahen die erzielten Einkünfte als solche aus selbständiger Tätigkeit an. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) folgte dem zunächst, änderte dann aber nach einer Betriebsprüfung die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre. Er folgte der Auffassung des Prüfers, die Tätigkeit des Klägers sei allein auf die Feststellung der jeweiligen Schadenshöhe gerichtet und also nicht beratender Natur.
Nach erfolglos gebliebenem Einspruch verfolgten die Kläger ihr Begehren mit der Klage weiter. Sie brachten vor, der Kläger sei als beratender Betriebswirt oder zumindest in ähnlicher Weise tätig. Jedenfalls sei seine Tätigkeit als "wissenschaftlich" i. S. von §18 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzusehen. Er besitze aufgrund eines abgeschlossenen Studiums eine wissenschaftliche Ausbildung im Bereich der Betriebswirtschaft. Die erworbenen Erkenntnisse setze er in vollem Umfang für die Tätigkeit als Sachverständiger ein. Er müsse z. B. den Wert vernichteter halbfertiger Erzeugnisse und Warenbestände anhand der im Unternehmen vorhandenen Unterlagen berechnen. Dazu müsse er die vorgefundenen Unterlagen selbst aufbereiten. Weiterhin seien umfassende kalkulatorische Berechnungen erforderlich, um die Höhe des entgangenen Gewinns bzw. des während der Betriebsunterbrechung entstandenen Verlusts zu ermitteln. Hierbei müßten insbesondere die Kostenstruktur des Unternehmens sowie die Marktgegebenheiten und die Konjunkturentwicklung analysiert und prognostiziert werden. In großen Schadensfällen sei häufig eine vollständige oder partielle Unternehmensbewertung erforderlich. Die Tätigkeit umfasse daher alle Hauptgebiete der Betriebswirtschaft. Andererseits beschränke sie sich auf eine reine Beratung der Auftraggeber.
Er sei seinem Auftraggeber gegenüber verpflichtet, in dessen Interesse zur Schadensminderung beizutragen. Dazu müsse er die geschädigten Unternehmer in der für sie ungewohnten Situation umfassend beraten. Diese Beratung umfasse praktisch alle Bereiche der unternehmerischen Tätigkeit. So müsse entschieden werden, ob Produktionsbereiche mangels Rentabilität stillgelegt werden sollten oder wie sie am schnellsten und besten weitergeführt werden könnten. Daher sei die Ersatzbeschaffung zu beurteilen. Auch die Auslagerung der Produktion und gar der Erwerb eines Konkurrenzunternehmens sei zu erwägen. Häufig müsse die Finanzierungssituation mituntersucht werden. Dieser Teil der Gutachtertätigkeit schlage sich schriftlich nur zum Teil nieder. Er mache in der Praxis rd. 70 v. H. der gesamten Tätigkeit aus.
Die Zahl der Fälle, in denen die Schadenshöhe allein aufgrund einfacher kaufmännischer Kenntnisse habe ermittelt werden können, belaufe sich auf weniger als 10 v. H. aller Aufträge. Zur Unterstützung ihrer Auffassung haben die Kläger ein Gutachten von Prof. Dr. X sowie Bestätigungen von Versicherungen vorgelegt.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger in den Streitjahren freiberuflich tätig gewesen sei.
Die Revision ließ das FG nicht zu.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des FA mit der Begründung, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung; auch beruhe das angefochtene Urteil auf einer Abweichung von dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. August 1961 I 21/61 U (BFHE 73, 656, BStBl III 1961, 505). Die Beschwerdeschrift ist -- als Vertreter i. S. von Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) -- von Regierungsrat Y mit dem Vermerk "Im Auftrag" unterzeichnet worden.
Die Kläger beantragen, die Beschwerde zurückzuweisen.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
I. Für die Vertretung von juristischen Personen und Behörden vor dem BFH bestimmt Art. 1 Nr. 1 Satz 3 BFHEntlG, daß diese sich auch durch Beamte oder Angestellte, welche die Befähigung zum Richteramt besitzen, vertreten lassen können. Der BFH hat diese Vorschrift in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt, daß der benannte Beamte oder Angestellte kein Bevollmächtigter i. S. des §62 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist, sondern durch seine Dienststellung von Amts wegen zur Vertretung der Behörde organisatorisch legitimiert ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH-Zwischenurteil vom 11. Januar 1979 V R 120/77, BFHE 127, 3, BStBl II 1979, 283; Beschluß vom 4. Dezember 1984 IX R 7/81, BFHE 142, 547, BStBl II 1985, 307). Dazu gehören nicht nur der Vorsteher eines beklagten FA, sondern auch dessen Vertreter im Amt. Für diese müssen Vertretungsbefugnis sowie Postulationsfähigkeit -- anders als für einen Bevollmächtigten i. S. von §62 FGO -- nicht, z. B. durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht, formell nachgewiesen werden, sondern es genügt, daß sie zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Art. 1 Nr. 1 Satz 3 BFHEntlG beschränkt den möglichen Personenkreis aber nicht auf den Vorsteher eines FA und seinen ständigen Vertreter, sondern läßt zur Vertretung des FA andere Beamte und sogar Angestellte zu, wenn diese die Befähigung zum Richteramt haben. Es unterliegt im Streitfall aber auch keinem Zweifel, daß der Unterzeichner der Beschwerdeschrift die Befähigung zum Richteramt besitzt und durch seine Dienststellung zur Vertretung des FA bestimmt ist. Das ergibt sich aus der beim FG hinterlegten Generalvollmacht. Zudem hat der Vorsteher des FA im Schriftsatz vom 2. September 1996 versichert, daß der Unterzeichner am Tage der Unterzeichnung der Beschwerdeschrift mit der Wahrnehmung der Vorsteheraufgaben betraut war. Im übrigen ist auch durch die Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens (GNOFÄ) festgelegt, daß die Rechtsbehelfsstelle die Aufgaben des FA im steuergerichtlichen Verfahren wahrnimmt (Nr. 1.2.1 und 1.6). Auch ist durch die Rechtsprechung anerkannt, daß die Unterzeichnung eines bestimmenden Schriftsatzes mit dem Zusatz "i. A." dem Schriftformerfordernis selbst dann genügt, wenn es nicht um die Vertretung einer Behörde ging (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 23. April 1991 VII R 63/90, BFH/NV 1992, 180, sowie Beschluß vom 7. April 1992 X B 26/92, BFH/NV 1992, 622).
II. Die Beschwerde ist unbegründet. Dabei kann dahinstehen, ob -- wie der Kläger meint -- das FA die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), die Abweichung von einer Entscheidung des BFH (§115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder einen Verfahrensmangel (§115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) nicht entsprechend den Anforderungen des §115 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt und bezeichnet hat. Denn jedenfalls ist die Beschwerde unbegründet.
1. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einer Abweichung von dem BFH-Urteil vom 29. August 1961 I 21/61 U (BFHE 73, 656, BStBl III 1961, 505). In dem dort entschiedenen Fall ging es darum, daß ein Versicherer die ihm obliegende Aufgabe der Schadensregulierung einem selbständigen Unternehmer übertragen hatte. Da die Schadensregulierung durch den Versicherer zu dessen originär gewerblicher Tätigkeit gehört, für die die Versicherungsunternehmen regelmäßig eigene Geschäftsabteilungen unterhalten, ist diese Tätigkeit bei der Übertragung auf einen Dritten ebenfalls gewerblich und nicht freiberuflich.
Von diesen Rechtsgrundsätzen ist das FG im angefochtenen Urteil nicht abgewichen. Es hat vielmehr -- ausgehend von seiner Feststellung, der Kläger sei lediglich begutachtend und niemals regulierend tätig geworden, -- die zu beurteilende Tätigkeit als die eines beratenden Betriebswirts oder doch diesem Beruf ähnlich angesehen. Auch der erkennende Senat ist in seinem Urteil vom 26. November 1992 IV R 109/90 (BFHE 170, 88, BStBl II 1993, 235) im Fall eines Dispacheurs davon ausgegangen, daß dieser eine freiberufliche Tätigkeit ausüben kann, wenn er aufgrund entsprechend qualifizierender Kenntnisse Gutachten erstellt.
2. Unter diesen Umständen kommt der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zu, selbst wenn der BFH noch keinen genau gleichen Fall entschieden hat. Der Kläger hat aufgrund seiner abgeschlossenen akademischen Ausbildung die Kenntnisse eines Betriebswirts. Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil bestand die Aufgabe des Klägers aber nicht darin, nur die Höhe des Schadens zu ermitteln, sondern vor allem darin, die Geschädigten bei der Minderung des Schadens zu beraten. Das erfordert, wie das FG für die Ermittlung der Schadenshöhe ausgeführt hat, vertiefte Überlegungen, die gleich mehrere Hauptgebiete der Betriebswirtschaftslehre (Rechnungswesen, Vertrieb, Materialwirtschaft) berührten. Erst recht gilt das für die Ermittlung der Betriebsunterbrechungsschäden. Hier geht es nicht nur um eine schlichte Erfassung exakt bezifferbarer Positionen, sondern um Berechnungen mit prognostischem Charakter, durch die gleich mehrere Hauptbereiche der Betriebswirtschaftslehre angesprochen sind, so daß ohne betriebswirtschaftliche Kenntnisse eine sachgerechte Berechnung des Schadens nicht möglich ist.
Grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache aber auch nicht deshalb, weil -- wie das FA meint -- die Beratungstätigkeit des Klägers nicht auf eine betriebswirtschaftliche Entscheidung des Beratenen abziele. Denn der Versicherer entscheide nur über die Höhe der auszuzahlenden Versicherungssumme. Selbst wenn man dem FA in diesem Gedankengang folgt, würde das aber nichts daran ändern, daß der Entscheidung des Versicherers der Vorschlag des Klägers vorausgeht. Dieser aber setzt die Kenntnisse und Erfahrungen eines Betriebswirts voraus.
Im übrigen verkennt das FA, daß nach den Feststellungen des FG die Hauptaufgabe des Klägers, und zwar auch bei Aufträgen von Versicherern, darin bestand, die Geschädigten bei der diesen obliegenden Pflicht zur Schadensminderung als Betriebswirt zu beraten.
3. Soweit das FA geltend macht, das FG hätte seine Ermittlungspflicht verletzt, weil es nicht festgestellt habe, ob die beratenden Elemente über die für die Schadensregulierung eines Versicherten notwendige Qualität hinausgingen, führt dies nicht zur Zulassung der Revision. Denn das FA hat nicht vorgetragen, warum es nicht von sich aus entsprechende Ermittlungen angeregt hat. Soweit das FA die Beweiswürdigung des FG angreift, wäre ein etwaiger Verstoß kein Verfahrensmangel i. S. von §115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache aber selbst dann nicht, wenn dem FG insoweit Fehler unterlaufen wären.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß Art. 1 Nr. 6 BFHEntlG abgesehen.
Fundstellen