Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzlicher Richter im Revisionsverfahren - Senatsinterne Geschäftsverteilung - Überbesetzung; ein Beteiligter ist auch dann im Verfahren vertreten, wenn der Bevollmächtigte nach Ladung zur mündlichen Verhandlung das Mandat niedergelegt hat
Leitsatz (NV)
1. Dem Erfordernis des § 21g Abs. 2 GVG ist genügt, wenn der Vorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer festlegt, nach welchen Grundsätzen die Senatsmitglieder an den Verfahren mitwirken, und den Berichterstatter aus dem Kreis der von vornherein zur Mitwirkung berufenen Mitglieder bestimmt.
2. Die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Überbesetzung werden nicht dadurch überschritten, daß dem erkennenden Senat insgesamt sechs Richter angehören.
3. Die Wirkung der Ladung für und gegen den Prozeßbeteiligten geht nicht dadurch verloren, daß der Prozeßbevollmächtigte nach Empfang der Ladung das Mandat niedergelegt hat.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; GVG § 21g Abs. 2; FGO § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) hat die Untätigkeitsklage der Kläger und Revisionskläger (Kläger) als unzulässig abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen.
Mit der Revision machen die Kläger die Verletzung des § 116 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Sie rügen ferner die Verletzung des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) im Revisionsverfahren, da sich aus dem internen Geschäftsverteilungsplan des erkennenden Senats der Berichterstatter in dieser Sache nicht ergebe. Infolge der Überbesetzung des Senats könne der Vorsitzende außerdem durch die Terminierung die von ihm gewünschte Richterbank beeinflussen und einen weiteren Richter seiner Wahl bestimmen. Das Verfahren sei bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu diesem Streitpunkt (2 BvR 1127/92 und 2 BvR 1136-1138/92) auszusetzen. Die Kläger beantragen, für das Revisionsverfahren gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes (GKG) keine Kosten zu erheben.
Entscheidungsgründe
I. Der Senat ist ordnungsgemäß besetzt.
Es läßt sich aus keiner Vorschrift des geltenden Rechts ernsthaft herleiten, daß der Berichterstatter von vornherein festgelegt sein müsse (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 2. Dezember 1992 I R 54/91, BFHE 170, 119, BStBl II 1993, 311 unter II. A; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, § 21g Rdnr. 14). Nach § 21g Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmt der Vorsitzende vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer, nach welchen Grundsätzen die Mitglieder an den Verfahren mitwirken. Diesem gesetzlichen Erfordernis ist jedenfalls dann genügt, wenn der Vorsitzende den Berichterstatter aus dem Kreis der von vornherein zur Mitwirkung berufenen Mitglieder bestimmt (ergänzender Geschäftsverteilungsplan des X.Senats 1994 unter IV). Einer zum Teil im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Mindermeinung folgt der Senat nicht. Sie verkennt die Funktion des Berichterstatters insbesondere im Verfahren vor dem Revisionsgericht. Diese Funktion besteht ausschließlich darin, Entscheidungen des Senats vorzubereiten. Eine selbständige Entscheidungsbefugnis außerhalb des Spruchkörpers - ähnlich etwa der des Einzelrichters beim FG (§ 21g Abs. 3 GVG) - gibt es beim BFH nicht.
Entgegen der Auffassung der Kläger werden die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Überbesetzung nicht dadurch überschritten, daß dem erkennenden Senat insgesamt sechs Richter angehören (vgl. BFH-Beschluß vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 1992, 252). Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist ein Spruchkörper grundsätzlich nur dann in verfassungswidriger Weise überbesetzt, wenn es die Zahl seiner ordentlichen Mitglieder gestattet, in zwei personell völlig verschiedenen Sitzgruppen Recht zu sprechen, oder wenn der Vorsitzende drei Spruchkörper mit je verschiedenen Beisitzern bilden kann (Beschlüsse des BVerfG vom 24. März 1964 2 BvR 42, 83, 89/63, BVerfGE 17, 294, 298f., und vom 3. Februar 1965 2 BvR 166/64, BVerfGE 18, 344, 349). Bei Entscheidungen, die in der Regelbesetzung mit fünf Richtern zu treffen sind, besteht diese Möglichkeit beim X.Senat des BFH offensichtlich nicht. Aber auch in Beschlußsachen, bei denen in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden ist, kann der X.Senat nicht in zwei personell voneinander verschiedenen Sitzgruppen Recht sprechen. Da nach dem ergänzenden Geschäftsverteilungsplan des erkennenden Senats der (nicht verhinderte) Vorsitzende an allen Entscheidungen des Senats mitwirkt, ist die Bildung von zwei personell völlig verschiedenen Sitzgruppen ausgeschlossen. Da dem X.Senat nur fünf beisitzende Richter angehören, ist es dem Vorsitzenden auch nicht möglich, in Beschlußsachen drei Spruchkörper mit je verschiedenen Beisitzern zu bilden. Im übrigen wird die Möglichkeit des Vorsitzenden, die Richterbank bei Beschlußsachen in Dreierbesetzung zu beeinflussen, nach dem ergänzenden Geschäftsverteilungsplan des X.Senats dadurch ausgeschlossen, daß von vornherein bestimmt ist, welche Richter jeweils in einer Sache mitwirken.
Eine Aussetzung des Verfahrens in direkter oder entsprechender Anwendung des § 74 FGO ist nicht geboten.
II. Die Revision ist unzulässig.
1. Die zulassungsfreie Revision ist nur statthaft, wenn wesentliche Mängel des Verfahrens i.S. von § 116 Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 FGO - schlüssig - gerügt werden. Eine schlüssige Rüge setzt voraus, daß die zur Begründung vorgetragenen Tatsachen - ihre Richtigkeit unterstellt - den behaupteten Verfahrensmangel ergeben. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
a) Die Rüge, der erkennende Senat der Vorinstanz sei mit einem Berufsrichter überbesetzt gewesen, kann keine zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1, § 119 Nr. 1 FGO eröffnen (vgl. Beschlüsse des BVerfG in BVerfGE 17, 294, 298f., und in BVerfGE 18, 344, 349).
Die Kläger haben keine Tatsachen vorgetragen, die darauf hindeuten könnten, der Vorsitzende des FG habe im Streitfall nach seinem Gutdünken, d.h. willkürlich, die Besetzung der Richterbank durch die Art der Terminierung verändert. Die im übrigen nicht näher konkretisierte Einlassung der Kläger, das FG hätte in den - den Streitfall nicht betreffenden - mündlichen Verhandlungen vom 14. und 17. Mai 1993 in einer anderen Sitzgruppe beraten und entscheiden müssen, ist unerheblich.
b) Ein Verfahrensmangel i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4 FGO ist nicht ersichtlich. Die Kläger waren im Verfahren vor dem FG nach Vorschrift des Gesetzes vertreten.
Die Ladung für den Termin zur mündlichen Verhandlung wurde dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger gemäß § 62 Abs. 3 Satz 5 FGO ordnungsgemäß zugestellt. Die Wirkung der Ladung für und gegen die Kläger ging nicht dadurch verloren, daß der Prozeßbevollmächtigte nach Empfang der Ladung das Mandat niedergelegt hat. Das FG war nicht verpflichtet, die Kläger persönlich zu laden oder zu prüfen, ob der Prozeßbevollmächtigte die Kläger von der Ladung verständigt hatte (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 12. März 1958 11/9 RV 976/56, BSGE 7, 58; Beschluß des BSG vom 12. März 1975 12 RJ 330/74, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1975, 582; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Dezember 1982 9 C 894/80, HFR 1983, 344).
Auch im übrigen haben die Kläger keine Tatsachen vorgetragen, die geeignet sind, einen Verfahrensmangel i.S. des § 119 Nr. 4 FGO zu begründen. Diese Vorschrift soll gewährleisten, daß die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit erhalten, entweder in eigener Person oder vertreten durch ihren Prozeßbevollmächtigten ihren Standpunkt darzulegen (BFH-Urteil vom 8. Februar 1991 III R 190/86, BFH/NV 1992, 41).
Die Revisionsbegründung enthält keinen substantiierten Hinweis darauf, daß dies den Klägern verwehrt gewesen sei. Statt dessen tragen die Kläger lediglich vor, Vorbescheid und Urteil des FG seien unverständlich. Ihre Klage sei zu Unrecht als sinnlos, unnütz und rechtsmißbräuchlich bezeichnet worden. Auch habe kein Anlaß dafür bestanden, die Vollmacht des Prozeßbevollmächtigten für dieses Verfahren in Zweifel zu ziehen.
Mit dieser Begründung kann ein Mangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO nicht erfolgreich gerügt werden. Dies gilt auch für die Rüge, der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs sei verletzt.
c) Der mit der Revision gerügte Verfahrensmangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ist nicht gegeben.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Beschluß vom 30. Juli 1990 V R 49/87, BFH/NV 1991, 325, m.w.N.) ist eine Entscheidung nicht mit Gründen versehen, wenn jegliche Begründung fehlt oder lediglich inhaltlose oder unverständliche Wendungen niedergeschrieben sind, die nicht erkennen lassen, von welchen Erwägungen das Gericht ausgegangen ist, und die eine Überprüfung des Rechtsstandpunktes nicht ermöglichen, oder wenn ein selbständiger Anspruch bzw. ein selbständiges Angriffs- und Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen worden ist. Ein Urteil ist nicht bereits dann nicht mit Gründen versehen, wenn seine Begründung lückenhaft, unzulänglich oder nicht überzeugend ist. Dies aber rügen die Kläger, soweit sie vorbringen, aus der Vorentscheidung werde nicht deutlich, weshalb den Anträgen auf Terminsverlegung nicht habe entsprochen werden können bzw. weshalb trotz Niederlegung des Mandats in Abwesenheit der Kläger verhandelt worden sei.
Soweit die Kläger ausführen, es sei nicht feststellbar, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Erwägungen das Urteil beruhe, kann dem nicht gefolgt werden. In der Vorentscheidung (ab S. 11 letzter Absatz) erläutert das FG eingehend, aus welchen Gründen es die Untätigkeitsklage der Kläger als unzulässig angesehen hat. Insbesondere wird unter Hinweis auf den Beschluß des BFH vom 8. Mai 1992 III B 138/92 (BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673) dargelegt, daß es am Rechtsschutzbedürfnis für die verfahrensmäßig vorgezogene Anrufung des Gerichts fehle, weil alle Voraussetzungen vorlägen, unter denen eine Aussetzung bzw. ein formloses Ruhen des Einspruchsverfahrens geboten sei.
2. Es ist keine Sachbehandlung durch das FG ersichtlich, die nach § 8 GKG die Nichterhebung der Gerichtskosten als geboten erscheinen ließe.
Fundstellen
Haufe-Index 419864 |
BFH/NV 1994, 499 |