Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Sequesters für nicht abgeführte Lohnsteuern
Leitsatz (NV)
1. Der Frage, ob ein Sequester wegen nicht abgeführter Lohnsteuern als Haftungsschuldner auch dann in Anspruch genommen werden kann, wenn offensichtlich ist, dass die Zahlungen an das FA nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO erfolgreich hätten angefochten werden können, kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
2. Es ist hinreichend geklärt, dass die Funktion und der Schutzzweck des in § 69 AO normierten Haftungstatbestandes die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe ausschließt.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1; AO §§ 69, 34 Abs. 1; GesO § 10 Abs. 1 Nr. 4; InsO § 130 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde im April 1996 vom Amtgericht (AG) im Rahmen eines Verfahrens zur Eröffnung der Gesamtvollstreckung über das Vermögen einer GmbH zum Sequester bestellt. Gegen die Schuldnerin wurde ein allgemeines Verfügungsverbot erlassen. Bis zur Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens am 1. Dezember 1996 wurde der Betrieb der GmbH weitergeführt. Mit Haftungsbescheid vom 30. Juli 1999 nahm der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den Kläger für rückständige Lohnsteuern der GmbH nebst steuerlichen Nebenleistungen für die Monate April bis August 1996 gemäß § 69 i.V.m. § 34 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) als Haftungsschuldner in Anspruch. Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte nur hinsichtlich der Haftung für den Monat August 1996 Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass der Haftungsbescheid im Übrigen zu Recht ergangen sei. Im Streitfall seien die Aufgaben des Sequesters den Aufgaben eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters i.S. von § 22 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) vergleichbar. Da im Zeitraum von September bis November 1996 Konkursausfallgeld an die Arbeitnehmer gezahlt worden sei, betreffe die Lohnsteuerpflicht nur den davor liegenden Zeitraum. Im Streitfall habe eine Bank ein Darlehen zur Begleichung der Arbeitslöhne gewährt und das Konkursausfallgeld gegen Abtretung der den Arbeitnehmern zustehenden Ansprüche vorfinanziert. Erst mit einer dreimonatigen Verzögerung sei die Pflicht zur Anmeldung und Abführung der Lohnsteuern entstanden. Der Kläger habe es pflichtwidrig unterlassen, während des laufenden Sequestrationsverfahrens Lohnsteueranmeldungen zu berichtigen und Lohnsteuern abzuführen. Allerdings habe er aufgrund der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens am 1. Dezember 1996 die Berichtigung für den Monat August 1996 nicht mehr vornehmen können. Auf die Frage, ob die Lohnsteuerzahlungen nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 der Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) anfechtbar gewesen seien, komme es nicht an, da im Streitfall eine Anfechtung nicht erfolgt sei. Zudem hätten auch keine anfechtbaren Rechtshandlungen vorgelegen. Schließlich habe der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass hypothetische Kausalverläufe bei einer Inanspruchnahme aus § 69 AO nicht berücksichtigt werden könnten.
Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) und wegen eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Von grundsätzlicher Bedeutung sei die Rechtsfrage, ob die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit der unterlassenen Abführung der Lohnsteuer dann einen Ausschließungsgrund für die Haftung des Abführungspflichtigen bilde, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzamts über den Erlass des Haftungsbescheids offensichtlich sei, dass die unterbliebene Abführung der Lohnsteuer erfolgreich angefochten worden wäre. Des Weiteren stelle sich die Frage, ob von einer solchen Offensichtlichkeit auszugehen sei, wenn zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids das Gesamtvollstreckungsverfahren bereits eröffnet und eine Abführung von Lohnsteuern vom Sequester unterlassen worden sei und wenn das Finanzamt Kenntnis vom Antrag auf Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens gehabt habe. Verfahrensfehlerhaft habe das FG bei seiner Entscheidung den aktenkundigen Umstand nicht berücksichtigt, dass im Streitfall der Haftungsbescheid erst nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens erlassen worden sei.
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet. Den vom Kläger aufgeworfenen Fragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Der gerügte Verfahrensmangel liegt nicht vor.
1. Einer Rechtsfrage kommt nur dann grundsätzliche Bedeutung zu, wenn sie klärungsbedürftig ist (vgl. BFH-Entscheidungen vom 16. Juli 1999 IX B 81/99, BFHE 189, 401, BStBl II 1999, 760, und vom 21. April 1999 I B 99/98, BFHE 188, 372, BStBl II 2000, 254, m.w.N.). An der zu fordernden Klärungsbedürftigkeit fehlt es jedoch, wenn die Rechtsfrage offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das FG in seiner Entscheidung getan hat, wenn die Rechtslage also eindeutig ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98, BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231, und vom 31. Mai 2000 X B 111/99, BFH/NV 2000, 1461). Darüber hinaus ist eine Rechtsfrage auch dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie durch die Rechtsprechung des BFH bereits hinreichend geklärt ist und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar oder vorgetragen sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung dieser Frage durch den BFH geboten erscheinen lassen (BFH-Beschluss vom 4. Mai 1999 IX B 38/99, BFHE 188, 395, BStBl II 1999, 587).
Im Streitfall vermag der Senat der Beschwerde keine neuen Gesichtspunkte zur Frage der Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe im steuerlichen Haftungsrecht zu entnehmen, die eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung geboten erscheinen ließen. Allein der Umstand, dass im Streitfall kein Geschäftsführer, sondern ein vom AG bestellter Sequester als Vertreter einer GmbH i.S. von § 34 Abs. 1 AO tätig geworden ist, rechtfertigt es nicht, die vom Senat entwickelte Rechtsprechung zu überdenken. Wie der Senat wiederholt entschieden hat, schließen die Funktion und der Schutzzweck des in § 69 AO normierten Haftungstatbestands die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe aus, so dass die Haftung nicht dadurch entfällt, dass der Steuerausfall unter Annahme einer hypothetischen, auf § 130 Abs. 1 InsO gestützten Anfechtung gedachter Steuerzahlungen durch den Insolvenzverwalter ebenfalls entstanden wäre (BFH-Entscheidungen vom 5. Juni 2007 VII R 65/05, BFHE 217, 233, BStBl II 2008, 273, und VII R 30/06, BFH/NV 2008, 1; vom 4. Juli 2007 VII B 268/06, BFH/NV 2007, 2059; vom 19. September 2007 VII R 39/05, BFH/NV 2008, 18, und vom 4. Dezember 2007 VII R 18/06, BFH/NV 2008, 521). Zur Begründung seiner Ansicht hat der BFH auf den historisch belegten Sicherungszweck der Haftungsnorm und daneben auch auf Praktikabilitätserwägungen abgestellt. Entgegen der Ansicht des Klägers hat der Senat seine Entscheidung nicht ausschließlich darauf gestützt, dass das Finanzamt bei der Berücksichtigung hypothetischer Anfechtungsmöglichkeiten eine Prognoseentscheidung treffen und die Erfolgsaussichten einer Anfechtung nach §§ 130 ff. InsO prüfen müsse. Selbst wenn das Finanzamt mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit von einer solchen Anfechtung ausgehen müsste, könnte dies nicht ohne Weiteres zu einer haftungsrechtlichen Freistellung des gesetzlichen Vertreters führen.
Hinsichtlich einer Anfechtungsmöglichkeit nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO und einer solchen nach § 130 Abs. 1 InsO bestehen nach Auffassung des beschließenden Senats keine solch wesentlichen Unterschiede, die in Haftungsfällen eine differenzierte rechtliche Bewertung erforderlich machten. Auch das Argument des Klägers, dass es in den Fällen angeordneter Sequestration zwangsläufig zur Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens komme, so dass Unsicherheiten diesbezuglich nicht bestünden, vermag nicht zu überzeugen. Zutreffend hat das FG darauf hingewiesen, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass es während des Sequestrationsverfahrens zu neuen Feststellungen hinsichtlich der Überschuldung oder zu erfolgreichen Vergleichsverhandlungen kommen könne. Mithin sind Verfahrensabläufe denkbar, bei denen es tatsächlich nicht zur Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens kommt.
2. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass es sich im Streitfall um auslaufendes Recht handelt. Die Gesamtvollstreckungsordnung ist vollständig durch die am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Insolvenzordnung ersetzt worden. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO nicht in Betracht. Das unsubstantiierte Vorbringen des Klägers, dass noch Tausende Gesamtvollstreckungsverfahren anhängig seien und dass Sequester in vielen Fällen Lohnsteuern nicht abgeführt hätten, vermag nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen.
3. Der von der Beschwerde behauptete Verfahrensmangel liegt nicht vor. Entgegen der Behauptung des Klägers hat das FG den Umstand, dass der angefochtene Haftungsbescheid erst nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens erlassen worden ist, nicht unberücksichtigt gelassen. Im Tatbestand des Urteils finden sich die Ausführungen, dass der Betrieb der GmbH bis zur Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens am 1. Dezember 1996 fortgeführt worden ist und dass das FA den Kläger mit Haftungsbescheid vom 30. Juli 1999 in Anspruch genommen hat. Den Inhalt der Akten und die streitentscheidenden Daten hat das FG damit zutreffend und ausreichend zur Kenntnis genommen und nicht gegen § 96 Abs. 1 FGO verstoßen. Dass es bei der rechtlichen Würdigung des Akteninhalts zu Ergebnissen gekommen ist, die von den Vorstellungen des Klägers abweichen, ist kein Verfahrensfehler.
Fundstellen