Entscheidungsstichwort (Thema)
Verschulden des Beraters durch Übersehen der Rechtsmittelbelehrung bzw. Übersehen einer Gesetzesänderung
Leitsatz (NV)
- Werden einem Prozessbevollmächtigten gleichzeitig mehrere Entscheidungen des FG zugestellt, muss er die Rechtsmittelbelehrung zu jeder einzelnen Entscheidung zur Kenntnis nehmen.
- Vor einem Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe ist zu erwarten, dass er Veröffentlichungen im BGBl, mindestens aber im BStBl laufend verfolgt. Von den Änderungen der FGO durch das 2. FGOÄndG musste ein fachkundiger Berater deshalb bereits im Januar 2001 wissen.
Normenkette
FGO § 56; 2. FGOÄndG
Tatbestand
Auf Grund mündlicher Verhandlung vom 18. Dezember 2000 ergingen in den Verfahren 3 K 4931/96, 3 K 7694/97 und 3 K 7974/00 klageabweisende Urteile des Finanzgerichts (FG), die dem Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen und Beschwerdeführerinnen (Klägerinnen) am 25. Januar 2001 zugestellt wurden. Die Revision wurde in keinem der Urteile zugelassen. Allen Urteilen ist eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, wonach die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde angefochten werden kann, die innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof (BFH) einzulegen ist. In den mündlichen Verhandlungen hatte das FG jeweils den Beschluss verkündet, eine Entscheidung werde den Beteiligten schriftlich zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 24. Februar 2001, eingegangen beim FG am gleichen Tag, legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen gegen alle genannten Urteile Revision und Nichtzulassungsbeschwerde ein. Die Nichtzulassungsbeschwerden stützte er dabei auf Verfahrensfehler. Das FG leitete den Schriftsatz an den BFH weiter, wo er am 9. März 2001 einging.
Am 11. April 2001 beantragte der Prozessbevollmächtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, soweit die Beschwerdefrist infolge einer Einlegung der Beschwerden beim FG versäumt worden sein sollte. Nach Art. 4 des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) gälten die bisherigen Bestimmungen noch für Entscheidungen, die vor dem 1. Januar 2001 verkündet worden seien. Dies betreffe auch die hier angefochtenen Urteile, die ausweislich der vorliegenden Protokolle am 18. Dezember 2000 verkündet worden seien.
Selbst wenn aber die Frist durch Einlegung der Beschwerden bei dem FG versäumt worden sein sollte, seien die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben. Das Nichtwissen um die Gesetzesänderung sei entschuldbar. In der Praxis des Prozessbevollmächtigten seien alle organisatorischen Vorkehrungen getroffen, um von Gesetzesänderungen zu erfahren. Es würden zwei bislang immer zuverlässige Standardkommentare in Loseblattform und die Beck‘sche Gesetzessammlung im Abonnement bezogen. Trotzdem sei die Änderung der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch das am 19. Dezember 2000 erlassene Gesetz aus den in der Praxis verfügbaren Arbeitsmitteln bei Abfassung der Nichtzulassungsbeschwerden nicht ersichtlich gewesen. Er, der Prozessbevollmächtigte, selber bzw. das mit der Fristenkontrolle beauftragte Personal hätten von der Änderung des § 116 FGO erstmals durch eine am 10. April 2001 ausgelieferte Ergänzungslieferung der vom Fachinstitut des Deutschen Steuerberaterverbandes herausgegebenen "Deutsche Steuerberater-Richtlinien" erfahren. Bei Abfassung des jetzigen Schreibens enthielten die von ihm abonnierten Loseblatt-Kommentare zur FGO immer noch keinen Hinweis auf die Änderung. In der Gesetzessammlung des Beck-Verlags sei der neue Text mit der Ergänzungslieferung von Januar 2001 erschienen, die in seinem Büro am 23. Februar 2001 einsortiert worden sei. Am 24. Februar 2001 seien die bereits zuvor fertiggestellten Nichtzulassungsbeschwerden ausgedruckt und versandt worden.
Für die Fristenkontrolle werde das Fristenkontrollbuch von Streck verwendet, das im Vorspann und auf einem Einlegestreifen Hinweise zur Fristberechnung gebe. Dort sei die Neufassung des Gesetzes nicht berücksichtigt.
Die ihm mit Schreiben vom 22. Januar 2001 zugestellten FG-Entscheidungen hätten unterschiedliche Rechtsmittelbelehrungen enthalten. Das erste Urteil in der Sache 3 K 2153/97 enthalte noch die Belehrung nach altem Recht. Weil diese dem bisherigen Kenntnisstand entsprochen habe, seien die Abweichungen in den anderen Rechtsmittelbelehrungen nicht zur Kenntnis genommen worden.
Beachte man, dass auf eine so wesentliche und unvorhergesehene Gesetzesänderung sowohl das Fachinstitut als auch namhafte Verlage erst so spät hätten reagieren können, könne weder ihm, dem Prozessbevollmächtigten, noch seinen Mitarbeitern ein Verschuldensvorwurf gemacht werden.
Die Klägerinnen beantragen,
die Revision gegen die Urteile des FG Köln vom 18. Dezember 2000 3 K 4931/96, 3 K 7694/97 und 3 K 7974/00 zuzulassen und ggf. hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Beschwerdefrist zu gewähren.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) beantragt,
die Beschwerden als unbegründet zurückzuweisen.
Das FA hält die Verfahrensrügen für unbegründet und hat zur Wahrung der Beschwerdefrist nicht Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat verbindet die Beschwerdeverfahren nach § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. einer entsprechenden Anwendung des § 121 Satz 1 FGO zur gemeinsamen Entscheidung.
Die Beschwerden sind unzulässig und waren deshalb zu verwerfen.
1. Gemäß Art. 4 2.FGOÄndG richtet sich die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen eine gerichtliche Entscheidung nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften, wenn die Entscheidung vor dem 1. Januar 2001 verkündet oder von Amts wegen anstelle einer Verkündung zugestellt worden ist. Anderenfalls findet die FGO in ihrer neuen Fassung Anwendung.
Im Streitfall ist danach die FGO in ihrer seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung anzuwenden. Die hier angefochtenen Urteile sind ―abweichend von dem Urteil in dem Verfahren 3 K 2153/97― nicht in der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2000 verkündet worden. Das FG hat vielmehr den dort verkündeten Beschlüssen entsprechend die Urteile im schriftlichen Verfahren nach § 104 Abs. 2 Halbsatz 1 FGO erlassen. In diesem Fall wird die Verkündung durch die Zustellung an die Beteiligten ersetzt (§ 104 Abs. 3 FGO). Da die Zustellung nach dem 31. Dezember 2000 erfolgt ist, liegen die Voraussetzungen für eine Anwendung der früheren Fassung der FGO nach Art. 4 2.FGOÄndG nicht vor.
2. Nach § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO (n.F.) ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim BFH einzulegen. Da die angefochtenen Entscheidungen dem Prozessbevollmächtigten am 25. Januar 2001 zugestellt worden sind, lief die Monatsfrist am Montag, dem 26. Februar 2001, ab (§ 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und 2 der Zivilprozessordnung ―ZPO― und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ―BGB―). Die Beschwerden gingen nach Weiterleitung durch das FG erst am 9. März 2001 und damit verspätet beim BFH ein.
Wiedereinsetzung für die Fristversäumnis kann nicht gewährt werden. Nach § 56 Abs. 1 FGO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Verschulden eines Prozessbevollmächtigten muss sich der Verfahrensbeteiligte wie eigenes Verschulden anrechnen lassen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). Der Prozessbevollmächtigte hat die Beschwerdefrist nicht unverschuldet versäumt. Einerseits muss von einem Prozessbevollmächtigten verlangt werden, dass er die Rechtsmittelbelehrung zu der Entscheidung, die er anfechten will, zur Kenntnis nimmt. Sollen mehrere Entscheidungen angefochten werden, muss jede einzelne Rechtsmittelbelehrung beachtet werden. Im Streitfall kann sich der Bevollmächtigte deshalb nicht darauf berufen, nur die Rechtsmittelbelehrung zu dem Verfahren 3 K 2153/97 gelesen zu haben, selbst wenn ihm dieses Urteil zuerst in die Hände gefallen sein sollte. Andererseits musste der Prozessbevollmächtigte auch bei Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerden von der Änderung der FGO Kenntnis genommen haben. Generell ist von einem fachkundigen Berater zu erwarten, dass er Veröffentlichungen im Bundesgesetzblatt laufend verfolgt. Dazu stehen unter Berücksichtigung heutiger technischer Hilfsmittel verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Mindestens müssen aktuelle Informationen in Presse und Fachpresse über Gesetzesänderungen beachtet werden (BFH-Beschluss vom 11. Oktober 2001 VII B 80/01, BFH/NV 2002, 215). Danach hätte der Prozessbevollmächtigte lange vor Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerden über die veränderte Rechtslage informiert sein müssen. Im Übrigen ist der vollständige Text des 2.FGOÄndG auch bereits in Heft 22 des Bundessteuerblatts I 2000 vom 30. Dezember 2000 abgedruckt.
Ungeachtet dessen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO gestellt. Obwohl ihm der maßgebende Gesetzestext seinem eigenen Vortrag nach seit dem 23. Februar 2001 ―dem Tag der Einordnung der betreffenden Ergänzungslieferung in die Beck‘sche Gesetzessammlung― in der Kanzlei zur Verfügung stand, hat er den Wiedereinsetzungsantrag erst am 11. April 2001 beim BFH eingereicht.
Fundstellen