Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitverschulden des FA - grundsätzliche Bedeutung
Leitsatz (NV)
Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage eines Mitverschuldens des FA wegen unterlassener Vollstreckungsmaßnahmen bei der Geschäftsführerhaftung.
Normenkette
AO 1977 § 34 Abs. 1, §§ 69, 191; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 3, § 142 Abs. 1; ZPO § 114
Tatbestand
Die Antragstellerin war Geschäftsführerin einer GmbH, über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet worden ist. Das beklagte Finanzamt (FA) nahm sie wegen angemeldeter, aber nicht abgeführter Lohnsteuer und Kirchensteuer der GmbH als Haftungsschuldnerin in Anspruch. Die Klage gegen den Haftungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Klägerin habe den Haftungstatbestand der §§ 69, 34 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) erfüllt, indem sie als verantwortliche Geschäftsführerin der GmbH über einen längeren Zeitraum hinweg Löhne ausgezahlt, die einbehaltene und angemeldete Lohnsteuer aber nicht an das FA abgeführt habe. Sie könne sich nicht darauf berufen, das FA habe es unterlassen, die Verwirklichung seiner Steueransprüche durch die rechtzeitige Pfändung des Warenlagers sicherzustellen. Zwar könne ein Mitverschulden des FA im Rahmen der bei der Geltendmachung der Haftung zu treffenden Ermessensentscheidung eine Rolle spielen. Jedoch könne ein Mitverschulden nicht darin gesehen werden, daß das FA von seinen Befugnissen zur Beitreibung der Lohnsteuerabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht habe. Die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners könne allenfalls dann ermessensfehlerhaft sein, wenn die fehlgeschlagene Beitreibung der Steuerforderung auf einer vorsätzlichen oder sonstigen besonders groben Pflichtverletzung des FA beruhe und demgegenüber das Verschulden des Haftungsschuldners gering wäre. So liege es aber im Streitfall nicht.
Zum einen sei zweifelhaft, ob das FA angesichts des von der GmbH betriebenen Verfahrens um vorläufigen Vollstreckungsschutz überhaupt schuldhaft gehandelt habe, als es zunächst auf die sofortige Vollstreckung der Steueransprüche verzichtete, um der GmbH Gelegenheit zu geben, ihre Liquiditätsverhältnisse durch die Aufnahme von Bankkrediten zu verbessern und die Eröffnung des Konkursverfahrens über ihr Vermögen zu vermeiden. Zum anderen treffe die Antragstellerin selbst an der Steuerverkürzung ein schweres Verschulden, da sie die einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträge innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen vorsätzlich - zumindest aber grob fahrlässig - nicht an das FA abgeführt habe.
Die Antragstellerin hat gegen das Urteil des FG Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und - im vorliegenden Verfahren - beantragt, ihr unter Beiordnung ihrer Prozeßbevollmächtigten Prozeßkostenhilfe (PKH) für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen. Sie stützt ihre Nichtzulassungsbeschwerde auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und trägt dazu vor:
Im Streitfall liege ein Verschulden des FA vor, das ihr Verschulden an der Nichtabführung an der Lohnsteuer überwiege. Der vorliegende Fall gehe über die bislang vom Bundesfinanzhof (BFH) entschiedenen Fälle zum Mitverschulden des FA wegen unterlassener Vollstreckungsmaßnahmen hinaus und sei auch für andere Haftungsfälle von grundsätzlicher Bedeutung. Seine Besonderheit liege darin, daß das FA kurz vor Eintritt der Insolvenz der GbmH durch ihren Prozeßbevollmächtigten ausdrücklich auf pfändbare und verwertbare Gegenstände (Warenlager) hingewiesen worden sei, die frei von Rechten Dritter gewesen seien und deren Pfändung und Verwertung mindestens in Höhe des durch Haftungsbescheid geltend gemachten Betrages zum Erfolg geführt hätten. Sie sei sogar bereit gewesen, die Abnehmer der Ware zur Zahlung direkt an das FA zu veranlassen. In einem solchen Falle erscheine das Verhalten des FA geradezu willkürlich, so daß hier eine Ausnahme von dem Regelfall der Inanspruchnahne des Haftungsschuldners geboten erscheine. Im Hinblick auf die hohe Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) und auf die oft damit verbundene Haftungsinanspruchnahme von Gesellschaftern für nichtabgeführte Lohnsteuer sei der Streitfall sicherlich kein Einzelfall, sondern habe grundsätzliche Bedeutung auch für andere mögliche Haftungsfälle.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerde und den Antrag auf PKH für das Beschwerdeverfahren zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von PKH war abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung - die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Die - allein auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützte - Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beschwerdeschrift nicht die formellen Anforderungen erfüllt, die an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung zu stellen sind (§ 115 Abs. 3 Satz 3 FGO).
Nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, d. h. wenn die Entscheidung des BFH aus Gründen der Rechtsklarheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Gemäß § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO muß in der Beschwerdeschrift die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden. Dies erfordert, daß substantiiert und konkret darauf eingegangen wird, inwieweit die Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Rechtsfrage umstritten ist (BFH-Beschluß vom 31. Juli 1987 V B 36/87, BFH/NV 1988, 172). Die bloße Behauptung, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, reicht nicht aus. Die Beschwerdebegründung der Antragstellerin genügt diesen Anforderungen nicht.
Wie die Antragstellerin selbst einräumt, ist die Rechtsfrage, ob unterlassene Vollstreckungsmaßnahmen des FA bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zu berücksichtigen sind, bereits höchstrichterlich entschieden und damit nicht mehr klärungsbedürftig. Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung ein Mitverschulden des FA, das allenfalls bei der Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO 1977) zu berücksichtigen wäre, verneint, wenn dieses über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen zur Beitreibung der vollständigen Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht hat (BFH-Urteile vom 11. August 1978 VI R 169/75, BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683, und vom 2. Oktober 1986 VII R 28/83, BFH/NV 1987, 349, 352). Im übrigen könnte nach der Rechtsprechung des BFH selbst bei Annahme eines mitwirkenden Verschuldens des FA die persönliche Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur dann einen Ermessensfehlgebrauch darstellen, wenn dessen Verschulden gering wäre (Urteil vom 26. Januar 1961 IV 140/60, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Abgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 14, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961, 109). Von diesen Rechtsgrundsätzen ist auch die Vorentscheidung ausgegangen. Sie hat im Hinblick darauf, daß die Antragstellerin ein schweres Verschulden - mindestens grobe Fahrlässigkeit - an der eingetretenen Steuerverkürzung trifft, deren Haftung gebilligt. Schließlich ergibt sich aus § 219 Satz 2 AO 1977, daß sogar eine vorrangige Inanspruchnahme des Haftungsschuldners (vor dem Steuerschuldner) dann gerechtfertigt ist, wenn seine Haftung u. a. - wie im Streitfall - darauf beruht, daß er gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen oder zu Lasten eines anderen zu entrichten (vgl. BFH/NV 1987, 349, 353).
Die Antragstellerin mißt - bezogen auf den Streitfall - der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung bei, ob ein zu berücksichtigendes Mitverschulden des FA in dem Fall vorliegt, daß dieses die ihm angebotene Pfändung und Verwertung des Warenlagers unterlassen habe. Hierzu führt sie aus, der Streitfall gehe über die bislang vom BFH entschiedenen Fälle hinaus und sei im Hinblick auf die hohe Zahl der Insolvenzen in der Bundesrepublik und die damit verbundene Haftungsinanspruchnahme für nicht abgeführte Lohnsteuer auch für andere Haftungsfälle von grundsätzlicher Bedeutung. Der Hinweis auf die noch ausstehende höchstrichterliche Entscheidung zu der im Streitfall gegebenen besonderen Fallkonstellation reicht für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung nicht aus. Die Antragstellerin beruft sich selbst auf die ,,Besonderheit" des vorliegenden Falles. In diesem Falle bedurfte es einer substantiierten Darlegung, daß die sich daraus für die Frage des Mitverschuldens des FA ergebende spezielle Rechtsfrage über ihre Bedeutung für den vorliegenden Einzelfall hinaus im Interesse der Allgemeinheit klärungsbedürftig ist. Dazu hätte die Antragstellerin darauf eingehen müssen, ob die Besonderheit der Rechtsfrage, wie sie sich im Streitfall stellt - Verpflichtung des FA zur Pfändung und Verwertung des Warenlagers, wenn es vom Haftungsschuldner auf diese Möglichkeit hingewiesen wird -, etwa im Schrifttum abweichend von der üblichen und höchstrichterlich gesicherten Beurteilung des Mitverschuldens des FA diskutiert wird oder daß es noch andere Haftungsfälle gibt, in denen diese Frage zur Entscheidung ansteht. Diesen Begründungsanforderungen genügt die Beschwerdeschrift der Antragstellerin nicht. Aus dem generellen Hinweis auf die hohe Zahl der Insolvenzen und der damit verbundenen Haftungsinanspruchnahme von Geschäftsführern zusammengebrochener Unternehmen ergibt sich nicht, daß den FÄ in zahlenmäßig nennenswerten sonstigen Fällen von potentiellen Haftungsschuldnern vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zur Vermeidung der Haftung die Befriedigung aus dem Warenlager oder aus sonstigen Gegenständen des Betriebsvermögens der Gesellschaft angeboten wird.
Dem Senat sind in seiner umfangreichen Entscheidungspraxis zur Geschäftsführerhaftung keine mit dem Streitfall vergleichbaren Sachverhaltsgestaltungen bekannt geworden. Auf die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der von der Antragstellerin aufgeworfenen speziellen Rechtsfrage zum Mitverschulden des FA konnte somit auch nicht etwa deshalb verzichtet werden, weil die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache offenkundig war (vgl. BFH-Beschluß vom 9. Mai 1988 IV B 35/87, BFHE 153, 378, BStBl II 1988, 725). Im übrigen würde das in der Nichtabführung der Lohnsteuer über einen längeren Zeitraum liegende schwere Verschulden der Antragstellerin, das nach der angeführten Rechtsprechung die Haftung auch unter Ermessensgesichtspunkten rechtfertigt, selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn in der Untätigkeit des FA trotz des Hinweises auf das Warenlager als Vollstreckungsobjekt ein behördliches Mitverschulden gesehen werden könnte. Der Antragstellerin war deshalb wegen der Aussichtslosigkeit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde die begehrte PKH zu versagen.
Fundstellen