Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs durch mangelhafte Fristsetzung nach Art. 3 § 3 VGFGEntlG; Zulässigkeit der Klage nach sachlich-rechtlicher Einspruchsentscheidung über verspäteten Einspruch
Leitsatz (NV)
1. Weist das FG Parteivorbringen als verspätet zurück, nachdem es hierfür eine rechtsunwirksame Ausschlußfrist gesetzt hatte, so kann eine Verletzung rechtlichen Gehörs vorliegen.
2. Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nach Art. 3 § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG setzt in formeller Hinsicht voraus, daß eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung gemäß § 53 Abs. 1 FGO i. V. m. § 8 Abs. 4 VwZG dem bestellten Prozeßbevollmächtigten förmlich zugestellt wird. Dabei ist § 9 Abs. 1 VwZG nicht anzuwenden, wenn derjenige, gegen den sich die fristsetzende Verfügung richtet, unzutreffend bezeichnet ist.
3. Ist ein Steuerbescheid mittels Postzustellungsurkunde (PZU) zugestellt worden, so ist ein Gegenbeweis gegen die PZU als öffentliche Urkunde nicht durch die bloße Behauptung der unterbliebenen Zustellung geführt.
4. Hat der Kläger gegen den Steuerbescheid verspätet Einspruch eingelegt, das FA aber hierüber sachlich-rechtlich entschieden, so ist die hiergegen erhobene Klage als unbegründet abzuweisen. Wenn das FG in einem solchen Fall die Klage als unzulässig abgewiesen hat, ist die Revision hiergegen unbegründet (Anschluß u. a. an BFH-Urteil vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 792).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; VGFGEntlG Art. 3 § 3; FGO § 53 Abs. 1, § 119 Nr. 3; VwZG § 8 Abs. 4, § 9 Abs. 1
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Eheleute. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) veranlagte die Kläger im Streitjahr 1984 auf Grund der von beiden Klägern unterschriebenen Einkommensteuererklärung 1984, wobei die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung geschätzt wurden. Der Einkommensteuerbescheid 1984 wurde am 19. September 1988 mit einfachem Brief zur Post gegeben. Das FA schätzte die Besteuerungsgrundlagen der Streitjahre 1985 und 1986 ebenfalls und stellte die Einkommensteuerbescheide 1985 und 1986 in je einer Ausfertigung an beide Kläger am 21. September 1988 mit Postzustellungsurkunden (PZU) zu. Der Bescheid über die Vorauszahlungen ab dem 10. März 1988 vom 20. September 1988 wurde ebenfalls durch PZU zusammen mit dem Einkommensteuerbescheid 1986 am 21. September 1988 zugestellt. Die Klägerin nahm die Bescheide in Empfang. Die Einsprüche gingen in allen Sachen am 24. Oktober 1988, einem Montag, beim FA ein. Das FA wies die Einsprüche nach Hinweis auf die Verspätung in einer Einspruchsentscheidung als unzulässig zurück.
Hiergegen richtete sich die am 19. September 1989 beim Finanzgericht (FG) erhobene Klage. Die Klageschrift enthielt weder einen Antrag, noch eine Begründung. Mit Verfügung vom 20. November 1989 forderte der Berichterstatter die Kläger vergeblich auf, innerhalb von drei Wochen nach Zustellung ,,die Tatsachen anzugeben, die nach Auffassung der Kläger bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen". Die Verfügung ist an die Firma X-GmbH Steuerberatungsgesellschaft (GmbH) gerichtet und dieser zugestellt worden.
Der am Tage der mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 1990 dem FG zugegangene Schriftsatz vom 13. Februar 1990 enthielt die Klageanträge und eine Klagebegründung. Die Kläger machten darin u. a. geltend, von einer Zustellung durch PZU sei ihnen nichts bekannt, im übrigen sei die Einspruchsfrist nicht abgelaufen gewesen, weil der 22. Oktober 1988 ein Samstag gewesen sei.
Das FG ging auf diesen Schriftsatz nicht ein, sondern wies die Klage wegen der Versäumung der Ausschlußfrist als unzulässig ab.
Mit der Revision rügen die Kläger Versagung rechtlichen Gehörs sowie die Verletzung des Art. 3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) und des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das FG habe mit Schreiben vom 20. November 1989 keine rechtswirksame Ausschlußfrist gesetzt. Art. 3 § 3 VGFGEntlG könne im vorliegenden Fall als Rechtsgrundlage der Zurückweisung wegen Verspätung nicht herangezogen werden. Die Vorschrift diene nur der Beschleunigung der Sachverhaltsaufklärung, nicht jedoch als Druckmittel für die alsbaldige Bezeichnung des Streitgegenstandes bzw. für die Vorlage einer Klagebegründung.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nur zum Teil begründet. Sie führt hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 1984 wegen Versagung rechtlichen Gehörs zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Soweit sie die Einkommensteuerbescheide 1985 und 1986 sowie die Einkommensteuer-Vorauszahlung für die Veranlagungszeiträume 1988 und 1989 betrifft, ist sie unbegründet.
I. Einkommensteuerbescheid 1984
1. Das FG versagte den Klägern rechtliches Gehör, indem es den die Klageanträge und die Klagebegründung enthaltenden Schriftsatz vom 13. Februar 1990 gemäß Art. 3 § 3 VGFGEntlG als verspätet zurückwies und für die Entscheidung deshalb nicht berücksichtigte, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zurückweisung nicht vorlagen.
a) Nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) haben die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten grundsätzlich das Recht, sich vor einer Entscheidung des Gerichts zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch in Erwägung zu ziehen (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 10. Oktober 1973 2 BvR 574/71, BVerfGE 36, 92, 97). Das Grundrecht auf rechtliches Gehör schließt zwar die Befugnis des Gerichts nicht aus, den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht zu lassen (BVerfG in BVerfGE 36, 92, 97 m. w. N.). Eine Zurückweisung und Nichtbeachtung eines Vortrages mit der Begründung, das Vorbringen sei verspätet, ist aber nur in den von den einschlägigen Verfahrensvorschriften gesetzten Grenzen zulässig (BVerfG-Beschlüsse vom 27. Februar 1980 1 BvR 277/78, BVerfGE 53, 219, 222; vom 9. Februar 1982 1 BvR 1379/80, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1982, 1453; Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. Mai 1986 I R 75/83 BFHE 146, 573, 575, BStBl II 1986, 753, 754; vom 6. Februar 1987 VI R 235/83, BFH/NV 1987, 455).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
b) Nach Art. 3 § 3 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 VGFGEntlG setzt die Zurückverweisung verspäteten Vorbringens voraus, daß der Vorsitzende oder ein von ihm nach § 79 FGO bestimmter Richter des FG (Berichterstatter) einem Beteiligten eine Frist zur Angabe der Tatsachen gesetzt hat, die nach Auffassung der Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt werden müssen. In formeller Hinsicht erfordert dies u. a., daß eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung gemäß § 53 Abs. 1 FGO förmlich zugestellt worden ist (BFH-Urteil vom 16. März 1983 IV R 147/80, BFHE 138, 143, 146, BStBl II 1983, 476; Urteile des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 21. September 1982 VI ZR 272/80, Versicherungsrecht - VersR - 1983, 33; vom 13. März 1980 VII ZR 147/79, BGHZ 76, 236, 238). Gemäß § 8 Abs. 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) müssen Zustellungen in einem anhängigen finanzgerichtlichen Verfahren an den bestellten Prozeßbevollmächtigten bewirkt werden.
Hieran fehlt es im Streitfall. Das FG hat die fristsetzende Verfügung vom 20. November 1989 an die GmbH gerichtet und an sie laut PZU vom 21. November 1989 zugestellt. Nach der schriftlichen Vollmacht vom 10. November 1989 hatten die Kläger aber nicht der GmbH, sondern dem Steuerberater X Vollmacht erteilt. Die GmbH ist in der Vollmachtsurkunde räumlich unter dem Namen des Prozeßbevollmächtigten X mit dem Zusatz ,,per Anschrift" eingefügt, also nur zur Kennzeichnung des Ortes, an dem der Bevollmächtigte erreichbar ist. Dem entspricht die ausdrückliche Bezeichnung des Prozeßbevollmächtigten X in der Klageschrift vom 18. September 1989. Daß die Klage unter dem Briefkopf der GmbH erhoben wurde, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Ebensowenig kommt es darauf an, ob der Prozeßbevollmächtigte die fristsetzende Verfügung des Berichterstatters tatsächlich erhalten hat. § 9 Abs. 1 VwZG, der die Heilung von Zustellungsmängeln regelt, ist bei inhaltlichen Mängeln des zuzustellenden Schriftstücks und damit dann nicht anwendbar, wenn - wie im Streitfall - derjenige, gegen den sich die fristsetzende Verfügung richtet, unzutreffend bezeichnet ist (vgl. BFH-Urteil vom 17. März 1970 II 65/63, BStBl II 1970, 598, 600; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 9 VwZG Tz. 2 m. w. N.).
Der Senat kann damit unerörtert lassen, ob eine Ausschlußfrist gemäß Art. 3 § 3 VGFGEntlG auch zur Konkretisierung des Klageziels gesetzt werden kann. Dies ist nicht entscheidungserheblich.
2. Die Klage war hinsichtlich des Streitjahres 1984 - im Unterschied zu den Streitjahren 1985 und 1986 (s. u. unter II.) - rechtzeitig erhoben. Für dieses Streitjahr 1984 lief die Einspruchsfrist gemäß § 355 der Abgabenordnung (AO 1977) - erst - am Montag, dem 24. Oktober 1988, ab.
Der Einkommensteuerbescheid war am 19. September 1988 mit einfachem Brief zur Post gegeben worden. Er galt damit gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, also am 22. September 1988, als bekanntgegeben. Das Ende der Frist fiel gemäß § 108 Abs. 1 AO 1977 i. V. m. §§ 188 Abs. 2, 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auf den 22. Oktober 1988, einen Sonnabend, so daß die Einspruchsfrist gemäß § 108 Abs. 3 AO 1977 am Montag, dem 24. Oktober 1988, endete.
II. Einkommensteuerbescheide 1985 und II. 1986
Hinsichtlich der Einkommensteuerbescheide 1985 und 1986 sowie des Vorauszahlungsbescheides über Einkommensteuer 1988 und 1989 vom 20. September 1988 eweist sich die Vorentscheidung im Ergebnis als zutreffend i. S. des § 126 Abs. 4 FGO.
Das FG hätte die Klage insoweit wegen der Versäumung der Einspruchsfrist abweisen müssen. Da die Bescheide den Klägern mit PZU am 21. September 1988 zugestellt wurden, lief die Rechtsbehelfsfrist am 21. Oktober 1988 ab (§§ 355 Abs. 1, 122 Abs. 5, 108 Abs. 1 AO 1977 i. V. m. § 188 Abs. 2 BGB). Aus den PZU ergibt sich, daß die Bescheide der Klägerin übergeben wurden. Als öffentliche Urkunden i. S. des § 418 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erbringen die PZU den vollen Beweis der in ihnen bezeugten Tatsachen (vgl. BFH-Urteil vom 11. Dezember 1985 I R 352/83, BFH/NV 1986, 644; Tipke / Kruse, a. a. O., § 3 VwZG Tz. 12 m. w. N.). Zwar kann der Inhalt der Urkunden durch Gegenbeweis widerlegt werden. Hierzu bedarf es jedoch der Darlegung konkreter Umstände, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der beurkundeten Tatsachen zu begründen vermögen. Die bloße Behauptung der Kläger, die Bescheide seien nicht zugestellt worden, reicht hierfür nicht aus. Die am 24. Oktober 1988 beim FA eingegangenen Einsprüche waren mithin hinsichtlich der Einkommensteuerbescheide 1985 und 1986 sowie des Vorauszahlungsbescheides verspätet.
Das FG hätte demnach die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen, sondern als unbegründet abweisen müssen (BFH-Urteile vom 11. Oktober 1977 VII R 73/74, BFHE 124, 1, BStBl II 1978, 154; vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791; Gräber / von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 44 Anm. 13 ff.). Das ändert aber nichts daran, daß das angefochtene Urteil im Ergebnis richtig ist: Die Sache selbst nämlich hätte das FG auch bei der Abweisung als unbegründet nicht prüfen dürfen. In einem derartigen Fall ist die Revision auch bei fehlerhafter Urteilsbegründung gemäß § 126 Abs. 4 FGO als unbegründet zurückzuweisen, allerdings mit der Maßgabe, daß die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet ist (vgl. BFH in BFHE 141, 470, 473, BStBl II 1984, 791, 793 Abschn. II. 2. a; Gräber / Ruban, a. a. O., § 126 Anm. 6 und 7 m. w. N.).
Fundstellen