2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis


Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis

Wird die einmonatige Einspruchsfrist (§ 355 Abs. 1 AO) nicht eingehalten, ist der Einspruch unzulässig. Entsprechendes gilt bei Klagefristen und sonstigen Fristen im finanzgerichtlichen Verfahren. Allerdings besteht nach § 110 AO die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn die Frist unverschuldet versäumt wurde. § 110 AO findet grundsätzlich bei allen Handlungs- und Erklärungsfristen Anwendung, ihre praktische Bedeutung erlangt die Vorschrift jedoch fast ausschließlich im Einspruchsverfahren.

War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Regelung erfasst nur verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Fristen, d.h. Handlungs- und Erklärungsfristen, die Beteiligte (§ 78 AO) oder Dritte gegenüber der Finanzbehörde zu wahren haben. Nicht wiedereinsetzungsfähig sind dagegen die gesetzlichen Fristen, die von den Finanzbehörden zu beachten sind, z.B. die Festsetzungsfrist (BFH Urteil vom 25.02.2010 - IX B 156/09, BFH/NV 2012 S. 176).

Beantragt daher der Steuerpflichtige eine Steuervergütung nach Ablauf der Festsetzungsfrist, kommt eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht (BFH Urteil vom 24.01.2008 - VII R 3/07, BStBl 2008 II S. 462).

Wiedereinsetzungsgründe und Verschulden

§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO fordert, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Stpfl. muss also darlegen, dass er durch sein Verhalten die Frist versäumt hat und dieses Verhalten entschuldbar ist. Dabei ist die Sorgfalt maßgebend, die dem Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des einzelnen Falls und seiner persönlichen Verhältnisse zugemutet werden kann. Schuldhaft handelt, wer die gebotene und ihm mögliche Sorgfalt bei der Fristwahrung außer Acht lässt und dadurch die Frist versäumt, vorausgesetzt, dass er die Versäumung voraussehen konnte und ihm ein anderes Verhalten zuzumuten war (BFH Urteil vom 04.03.1998 - XI R 44/97, BFH/NV 1998 S. 1056).

Eine Fristversäumnis ist nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falls angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (BFH Urteil vom 20.02.2001 - IX R 48/98, BFH/NV 2001 S. 1010). Wird ein Steuerbescheid vor dem aufgedruckten Datum zugestellt, beginnt die Einspruchsfrist mit der Zustellung. Versäumt der Steuerpflichtige die Einspruchsfrist, weil er die Frist nach dem Datum des Bescheids berechnet hat, ist Wiedereinsetzung zu gewähren (BFH Urteil vom 20.11.2008 - III R 66/07, BStBl 2009 II S. 185). Entsprechendes gilt, wenn bei Zustellung das auf dem Briefumschlag vermerkte Zustellungsdatum nicht eindeutig lesbar ist und auch von einem späteren Zustellungsdatum (14. oder 19.?) ausgegangen werden kann (BFH Urteil vom 05.03.2008 - VII B 74/07, BFH/NV 2008 S. 1105).

Zur Frage der verschuldeten oder unverschuldeten Fristversäumung geben wir nachfolgend einen Überblick über die in der Besteuerungspraxis wichtigsten Fallgestaltungen:

  • Abwesenheit: Bei vorübergehender, urlaubsbedingter Abwesenheit von längstens sechs Wochen brauchen keine besonderen Vorkehrungen getroffen zu treffen. Wer dadurch eine gesetzliche Frist versäumt, handelt nicht schuldhaft (BFH Urteil vom 21.01.1992 - VII B 234/91, BFH/NV 1992 S. 578). Anders ist dies dagegen, wenn dem Steuerpflichtigen der Verwaltungsakt zu einem Zeitpunkt zugeht, zu dem er entweder noch vor oder nach Urlaubsantritt in der Lage ist, Einspruch einzulegen (BFH Urteil vom 05.11.1987 - IV R 354/84, BFH/NV 1988 S. 614).
  • Bei einem GmbH-Geschäftsführer, der einen sechswöchigen Urlaub antritt, legt der BFH dagegen strengere Maßstäbe an. Diesem ist aufgrund der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht zuzumuten, dass er entsprechende Vorkehrungen für die Weiterleitung eingehender Bescheide trifft, insbesondere, wenn er mit solchen konkret rechnen muss (BFH Urteil vom 11.04.2001 - I B 123/00, BFH/NV 2001 S. 1221). Generell gilt bei Geschäftsleuten, die sich für längere Zeit auf Geschäftsreisen begeben, dass sie Vorkehrungen für einen rechtszeitigen Postzugang treffen müssen (BFH Urteil vom 14.11.1989 - VII B 82/89, BFH/NV 1990 S. 584).
  • Arbeitsüberlastung ist grundsätzlich kein Entschuldigungsgrund, da sie als allgemeine Zeiterscheinung den Steuerpflichtigen nicht davon befreit, auf die Einhaltung von Fristen zu achten (BFH Urteil vom 24.11.1970 - II B 42/70, BStBl. 1971 II S. 110). Entsprechendes gilt für persönliche Schwierigkeiten und Sorgen, dagegen kann eine aus familiären Gründen entstandene, schwerwiegende seelische Belastung ein Entschuldigungsgrund sein (BFH Urteil vom 20.06.1996 - X R 95/93, BFH/NV 1997 S. 40).
  • Ausländer: Ein Ausländer mit fehlenden deutschen Sprechkenntnissen kann nicht mit Erfolg geltend machen, er habe die Rechtsbehelfsbelehrung nicht verstanden und es deshalb versäumt, Einspruch einzulegen, da er sich rechtzeitig um Übersetzung hätte bemühen müssen (BFH Urteil vom 17.03.2010 - X B 114/09, BFH/NV 2010 S. 1239).
  • Fehler des Finanzamts: Trägt das Finanzamt maßgeblich dazu bei, dass der Steuerpflichtige die Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt, kommt Wiedereinsetzung in Betracht. Dies ist z.B. der Fall, wenn dem Steuerpflichtige nicht das erforderliche rechtliche Gehör gewährt worden ist (§ 91 AO) und er dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt. In diesem Fall gilt die Versäumung der Rechtsbehelfsfrist als nicht verschuldet (§ 126 Abs. 3 AO). Allerdings muss die unterlassene Anhörung ursächlich für die Fristversäumung sein. Lässt das Finanzamt z.B. einen konkludent beantragten Ausbildungsfreibetrag (§ 33a Abs. 2 EStG) unberücksichtigt, ohne darauf im Einkommensteuerbescheid hinzuweisen, kommt Wiedereinsetzung in Betracht (BFH Urteil vom 30.10.2003 - III R 24/02, BStBl 2004 II S. 394).
  • Fristausnutzung: Ungeachtet der Tatsache, dass es dem Steuerpflichtigen zusteht, die Einspruchsfrist auszunutzen, handelt er schuldhaft, wenn er ein Schriftstück ohne Rücksicht auf Postlaufzeiten erst am letzten Tag der Frist zur Post gibt (BFH Urteil vom 03.07.2000 - VI B 223/99, BFH/NV 2000 S. 1491).
  • Krankheit kann eine Wiedereinsetzung rechtfertigen, wenn sie so schwer und unvermutet war, dass der Steuerpflichtige außerstande war, das Schriftstück selbst oder durch einen Dritten einzureichen (BFH Urteil vom 17.09.1987 - III R 235/84, BStBl. 1988 II S. 249). Sie muss plötzlich aufgetreten sein, d.h. der Steuerpflichtige konnte mit ihr nicht rechnen, und sie muss so schwerwiegend sein, dass weder die Wahrung der laufenden Fristen noch die Bestellung eines Dritten, der sich um die Fristwahrung kümmern konnte, möglich war (BFH Urteil vom 09.04.2018 - X R 9/18, BFH/NV 2018 S. 828). Allerdings muss sich der Stpfl. nach dem Abklingen der Krankheit in angemessener Frist davon überzeugen, ob Fristen zu wahren sind, ansonsten handelt er schuldhaft (BFH Urteil vom 11.12.1986 - IV R 184/84, BStBl 1987 II S. 303). Auch Krankheit oder Tod von Angehörigen können Wiedereinsetzungsgründe sein (BFH Urteil vom 02.05.2001 - VIII R 3/00, BFH/NV 2001 S. 1418)
  • Postverkehr: Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten im Postverkehr können im Einzelfall zur Wiedereinsetzung führen. Hier gilt der Grundsatz, dass der Steuerpflichtige darauf vertrauen darf, dass die von der Post für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Erwartungswidrige Postverzögerungen führen zur Wiedereinsetzung. Dies gilt auch für den Verlust des Schriftstücks auf dem Postweg, allerdings obliegt hier dem Steuerpflichtigen die Beweislast, dass er das Schriftstück tatsächlich mit zutreffender Adressierung auf den postalischen Weg gebracht hat. Entsprechendes gilt, wenn der Steuerpflichtige geltend macht, er habe ein (beim Finanzamt verspätet eingegangenes) Schreiben rechtzeitig zur Post gebracht. Hierzu bedarf es weitergehender Nachweise z.B. durch Vorlage von Kopien aus einem Fristenkontrollbuch oder der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Person, die den Brief in den Briefkasten geworfen hat (BFH Urteil vom 23.01.2001 - VI B 62/99, BFH/NV 2001 S. 928).
  • Adressiert der Steuerpflichige seinen Einspruch an eine unzuständige Finanzbehörde, die leicht und einwandfrei erkennen kann, dass nicht sie, sondern eine andere Finanzbehörde zuständig ist, und leitet sie diesen Einspruch nicht unverzüglich an die zuständige Finanzbehörde weiter, begründet eine hierdurch verursachte Fristversäumung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (BVerfG Urteil vom 02.09.2002 - 1 BvR 476/01, BStBl 2002 II S. 835).
  • Rechtsirrtum des Steuerpflichtigen: Der Irrtum des Steuerpflichtigen über die verfahrensrechtlichen Folgen der Rechtsbehelfsfrist kann zu einer Wiedereinsetzung führen, wenn ihm trotz gebotener Sorgfalt die Dauer der Frist oder die Frist als solche nicht bekannt war (BFH Urteil vom 20.02.2001 - IX R 48/98, BFH/NV 2001 S. 1010). Dagegen sind Irrtümer über materielles Recht grundsätzlich nicht entschuldbar i.S.v. § 110 AO. Zum Antragsrecht gem. § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG hat der BFH entschieden, dass sowohl die Unkenntnis des Antragsrechts als auch die Unkenntnis, einen solchen Antrag neben einem Antrag auf Günstigerprüfung stellen zu können bzw. zu müssen, bei einem nicht fachkundig beratenen Stpfl. unverschuldet sein kann (BFH Urteil vom 29.08.2017 - VIII R 33/15, BStBl 2018 II S. 69).

Wiedereinsetzung: Vertreterverschulden

§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmt, dass der Steuerpflichtige sich das Verschulden seines Vertreters zuzurechnen hat. Vertreter können sowohl gesetzliche Vertreter (Eltern für ihre minderjährigen Kinder, Geschäftsführer) als auch gewillkürte Vertreter (Steuerberater, Rechtsanwälte o.Ä) sein. Hiervon zu unterscheiden ist der Erfüllungsgehilfe, der als Hilfsperson (z.B. bei der Abgabe der Erklärung oder der Übermittlung des Einspruchs) mitwirkt. Trifft diesen ein Verschulden an der Versäumung der Frist, kommt eine Wiedereinsetzung nur dann nicht in Betracht, wenn auch den Steuerpflichtigen selbst ein Verschulden trifft, z.B. indem er eine als unzuverlässig bekannte Person bittet, seinen Einspruch beim Finanzamt in den Hausbriefkasten zu werfen (BFH Urteil vom 10.07.1996 - II R 12/96, BFH/NV 1997 S. 46).

Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Wiedereinsetzung wird grundsätzlich nur auf Antrag gewährt (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO). Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO, BFH Urteil vom 06.12.2011 - XI B 3/11, BFH/NV 2012 S. 707). Die Monatsfrist beginnt nach Ablauf des Tages, an dem das Hindernis beseitigt ist (z.B. Urlaubsrückkehr). Hat der Steuerpflichtige keine Kenntnis von der Fristversäumnis (z.B. bei Poststörungen), beginnt die Frist, wenn er positive Kenntnis von der Fristversäumnis hat oder diese bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen müssen.

Die Monatsfrist ist gewahrt, wenn innerhalb dieser Frist zumindest im Kern die Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll. Ist dies geschehen, können unklare oder unvollständige Angaben auch noch nach Fristablauf erläutert oder ergänzt werden (BFH Urteil vom 31.01.2017 - IX R 19/16, BFH/NV 2017 S. 885).Wird die Monatsfrist entschuldbar versäumt, ist auch hierfür Wiedereinsetzung zu gewähren (BFH Urteil vom 25.01.1989 - V B 143/87, BFH/NV 1989 S. 705).

Die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags sind grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist darzulegen (BFH Urteil vom 02.03.1994 - I R 134/93, I S 18/93, BFH/NV 1995 S. 121). Allerdings können unvollständige Angaben auch nach Ablauf der Antragsfrist erläutert oder ergänzt werden (BFH Urteil vom 27.09.2001 - X R 66/99, BFH/NV 2002 S. 358). Der Steuerpflichtige muss beispielsweise bei Erkrankung darlegen, in welcher Zeit er erkrankt war und wann er wieder in der Lage war, zur Fristwahrung etwas zu unternehmen (BFH Urteil vom 31.05.2001 - IV S 4/01, BFH/NV 2001 S. 1571). Außerdem muss er i.d.R ein ärztliches Attest vorlegen, aus dem sich ergibt, dass ihn die Krankheit an der Wahrung der Frist gehindert hat (BFH Urteil vom 04.01.2000 - IX R 83/95, BFH/NV 2000 S. 743).

Der Bevollmächtigte, der sich auf ein von ihm nicht zu vertretenes Büroversehen beruft, muss darlegen, dass kein Organisationsmangel vorliegt, d.h. dass er alle Vorkehrungen dafür getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen ausschließen, und er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (BFH Urteil vom 07.02.2002 - VII B 150/01, BFH/NV 2002 S. 795). Erforderlich ist nicht nur die Schilderung der Fristen- und Postausgangskontrolle, sondern auch die Vorlage des Fristenkontrollbruchs und des Postausgangsbuchs (BFH Urteil vom 15.01.2002 - X B 143/01, BFH/NV 2002 S. 669).

Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist entbehrlich, wenn innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung nachgeholt wird (§ 110 Abs. 2 Satz 4 AO). Dies betrifft Fälle, in denen der Steuerpflichtige zwar die Frist versäumt hat, von der Fristversäumnis jedoch keine Kenntnis hatte. Hier bedarf es keines zusätzlichen Wiedereinsetzungsantrags mehr. Allerdings besteht auch hier die Verpflichtung, die eine Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen innerhalb der Antragsfrist vorzutragen. Sind diese Tatsachen jedoch offensichtlich oder amtsbekannt (z.B. bei einem Poststreik), ist Wiedereinsetzung von Amts wegen zu gewähren (BFH Urteil vom 26.11.1976 - III R 125/74, BStBl 1977 II S.246).

Die versäumte Handlung ist innerhalb der Antragsfrist nachzuholen (§ 110 Abs. 2 Satz 3 AO). Wird die versäumte Handlung nicht innerhalb der Antragsfrist nachgeholt, ist der Antrag unzulässig.

Wiedereinsetzung: Jahresfrist

§ 110 Abs. 3 AO bestimmt, dass nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Handlung Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt und die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden kann, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Die Jahresfrist ist nicht wiedereinsetzungsfähig. Bemerkt der Stpflichtige z.B. erst nach über einem Jahr, dass er einen Steuerbescheid wegen fehlender Begründung nicht angefochten hat (z.B. im Rahmen der Erstellung der Steuererklärung für das Folgejahr), kommt eine Wiedereinsetzung nicht mehr in Betracht. Nach Bestandskraft eines Steuerbescheids geäußerte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm sind kein einem Naturereignis vergleichbares Schicksal (BFH Urteil vom 17.11.2009 - VI B 74/09, BFH/NV 2011 S. 817).

Kapitel 3: Klagefrist und Klagebefugnis