Entscheidungsstichwort (Thema)
Berichtigung bestandskräftiger Bescheide
Leitsatz (NV)
Die Berichtigung bestandskräftiger Bescheide über die Nichtgewährung von Währungsausgleichsbeträgen zugunsten des Beteiligten steht im Ermessen der Verwaltung.
Normenkette
AO 1977 §§ 130, 172; VwVfG § 48 Abs. 1, § 51 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führte von September 1974 bis September 1975 nach Kanada weißen EWG-Tafelwein der Marke X aus. Dabei handelte es sich um einen Verschnitt aus weißem deutschen Tafelwein der Rebsorten Müller-Thurgau und Silvaner und italienischen Weißweinen der Rebsorte Trebbiano. Sie beantragte jeweils die Gewährung von Währungsausgleichsbeträgen (WAB). In den Anträgen gab sie als Nummer der Marktordnungs-Warenliste (MO-Warenliste) jeweils 2205 25 28 00 an, was der Weinart A I entsprach. Die gleichzeitig vorgelegten Analysenzeugnisse und Vorkostergutachten bezeichneten die ausgeführten Weine dagegen ausnahmslos als Tafelwein der Art A II. In einigen Kontrollexemplaren meldete die Klägerin die Weine als solche der MO-Warenliste Nr. 2205 25 25 00 an, was ebenfalls der Weinart A II entsprach. Nach Hinweis des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt - HZA -) auf diese Unstimmigkeiten bat die Klägerin mit Schreiben vom 7. Juli 1975, die Waren für die Berechnung der WAB der MO-Warenliste Nr. 2205 25 25 00 zuzuweisen. Demgegenüber vertrat das HZA die Auffassung, daß für die genannten Ausfuhren die MO-Warenliste Nr. 2205 25 28 00 zutreffe, da der Tafelwein nicht mindestens zu 75 % aus einer der Rebsorten Silvaner, Müller-Thurgau und Riesling sowie anderen weißen deutschen Tafelweinen bestehe. Dementsprechend gewährte das HZA der Klägerin nur die für Weine der Art A I vorgesehenen WAB. Die Bescheide wurden bestandskräftig.
Bei den ab 29. September 1975 erfolgten Ausfuhren der genannten Weine lehnte das HZA die Gewährung von WAB ab, weil nach der Verordnung (EWG) Nr. 2448/75 (VO Nr. 2448/75) der Kommission vom 25. September 1975 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 250/29 vom 26. September 1975) die Anwendung von WAB im Weinsektor mit Ausnahme von Tafelwein der Weinart A II und A III in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) von diesem Tage an ausgesetzt worden war. Die Klägerin strengte ein Rechtsbehelfsverfahren mit der Begründung an, daß es sich bei den ausgeführten Weinen insgesamt um solche der Weinart A II gehandelt habe, die von der Aussetzung der WAB ausgenommen seien. Sie hatte Erfolg (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 30. November 1978 Rs. 88/78, EuGHE 1978, 2477, und Urteil des Senats vom 24. April 1979 VII R 94/77, BFHE 128, 280).
Mit Schreiben vom 7. November 1977 und 7. Januar 1980 beantragte die Klägerin die Berichtigung der bestandskräftigen Bescheide zu Tafelweinausfuhren vor dem 29. September 1975 und die Zahlung der Differenz zwischen den WAB für die Weinart A I zur Weinart A II. Das lehnte das HZA mit Bescheid vom 7. Oktober 1980 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides in Gestalt der Einspruchsentscheidung das HZA zu verpflichten, die WAB-Gewährungsbescheide entsprechend ihrem Antrag vom 7. November 1977 zu ändern und das HZA zu verurteilen, an sie 128 000 DM nebst 4 % Zinsen zu zahlen. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit folgender Begründung ab:
Die Berichtigung von Bescheiden über WAB richte sich nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht. Es könne offenbleiben, ob die Abgabenordnung (AO 1977) oder das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) anzuwenden sei. Nach den in Betracht kommenden Vorschriften (§§ 130, 172 AO 1977, §§ 51 Abs. 1, 48 Abs. 1 VwVfG) sei die Korrektur bestandskräftiger Bescheide in das Ermessen der Verwaltung gestellt. Sie müsse ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausüben. Diesem Zweck entspreche es, wenn die Verwaltung von ihrem Berichtigungsermessen nur in einem Maße Gebrauch mache, das den Vorrang der Regelung über das Rechtsbehelfsverfahren nicht in Frage stelle. Im Regelfalle stelle es keinen Ermessensverstoß dar, wenn die Verwaltung einen Antrag auf Berichtigung bestandskräftiger Bescheide für den Fall ablehne, daß der Betroffene in der Lage gewesen sei, die Fehlerhaftigkeit des Bescheids in einem Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen. Wenn vom Bürger die Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens bei Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht habe erwartet werden können, liege ein Ausnahmefall vor. Ein solcher sei hier nicht gegeben.
Von der Klägerin habe die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens erwartet werden können. Sie habe nicht bestritten, daß sie seit Jahren Vergünstigungen für die Ausfuhr von Weinen in Anspruch nehme und mit den Bestimmungen des EG-Marktordnungsrechts vertraut sei. Bereits vor Erlaß der streitbefangenen Bescheide sei die Frage, ob die ausgeführten Weine der Weinart A I oder A II zuzurechnen seien, Gegenstand des Schriftverkehrs zwischen der Klägerin und dem HZA gewesen. In diesem habe sie selbst die Weine zum Teil als solche der Art A II bezeichnet. Das HZA habe eine abweichende Auffassung vertreten und dementsprechend die WAB-Sätze für die Weinart A I angewandt. Wenn die Klägerin mit der Gewährung geringerer WAB als beantragt nicht einverstanden gewesen wäre, hätte sie durch Rechtsbehelf gegen die ersten Bescheide vom 24. Juli 1975 die zutreffende Einordnung der Weine klären lassen können und müssen. Statt dessen habe sie weiterhin die Gewährung von WAB auf der Grundlage der MO-Warenliste Nr. 2205 25 28 00 beantragt.
Streitgegenstand der von der Klägerin später eingeleiteten und erfolgreich durchgeführten Rechtsbehelfsverfahren sei die Ablehnung von Anträgen auf Zahlungen von WAB für Weine der Art A I nach Inkrafttreten der VO Nr. 2448/75 gewesen. Von dem dem Urteil des Senats vom 21. November 1968 VII 3/65 (BFHE 94, 306) zugrunde liegenden Sachverhalt unterscheide sich der vorliegende Fall insofern, als die Bescheide zum großen Teil bereits vor dem ersten gegen die Ablehnung der Zahlung von WAB angestrengten Rechtsbehelfsverfahren ergangen seien. Der vorliegende Sachverhalt sei auch nicht vergleichbar mit dem im Urteil des Senats vom 6. Juli 1976 VII R 98/73 (BFHE 120, 2) angenommenen Ausnahmefall. Er sei vielmehr vergleichbar mit den in den Urteilen des Senats vom 12. März 1974 VII R 135/71 (BFHE 112, 233) und vom 31. März 1981 VII R 1/79 (BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507) zugrunde liegenden Sachverhalten, in denen der Bundesfinanzhof (BFH) das Vorliegen eines Ausnahmefalles verneint habe.
Ihre Revision begründet die Klägerin im wesentlichen wie folgt:
Das FG habe den Grundsatz der ständigen Rechtsprechung des BFH verkannt, wonach unter den besonderen Umständen des Einzelfalles die Ablehnung der Berichtigung unter Hinweis auf die Bestandskraft der Bescheide einen Ermessensfehlgebrauch darstelle. Es stehe fest, daß diese Bescheide objektiv falsch gewesen seien. Die Verwaltung sei nach der Rechtsprechung des BFH zur Berichtigung verpflichtet, wenn vom Steuerpflichtigen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens billigerweise nicht habe erwartet werden können. Die im Urteil des Senats in BFHE 94, 306 in den Vordergrund gestellten Gründe seien auch hier gegeben. Es gehe um eine größere Anzahl inhaltlich gleicher Bescheide; die materielle Rechtsfrage sei stets dieselbe; sie, die Klägerin, habe ein Rechtsbehelfsverfahren tatsächlich durchgeführt; es seien bereits eine größere Anzahl von Bescheiden geändert worden; es wäre reiner Formalismus, die Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens für jeden Einzelbescheid zu verlangen.
Zu Unrecht meine das FG, von ihr, der Klägerin, hätte die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens erwartet werden können. Das FG berücksichtige dabei nicht, daß im vorliegenden Fall die Akte, deren Berichtigung erstrebt werde, nur ca. drei Monate zurückgelegen hätten (im Gegensatz zum Sachverhalt des Urteils in BFHE 112, 233). Zu Unrecht verweise das FG auf das Urteil in BFHE 120, 2. Dort werde in erster Linie darauf abgestellt, daß die Behörde ,,nachhaltig und langfristig" eine bestimmte Rechtsauffassung vertreten habe. Nur in einem obiter dictum erwähne das Gericht, daß zu jener Zeit drei höchstrichterliche Entscheidungen vorgelegen hätten. Darauf beruhe das Urteil nicht. Entgegen der Auffassung des FG sei der vorliegende Fall nicht vergleichbar mit den Sachverhalten der Urteile in BFHE 112, 233 und in BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507. Im ersten Fall habe das Unternehmen das Rechtsbehelfsverfahren annähernd zwei Jahre später angestrengt. Im zweiten Fall habe ein Sachverhalt vorgelegen, wonach das BFH-Urteil schon bekannt gewesen sei, als die Rechtsbehelfsfristen noch nicht abgelaufen gewesen seien.
Die Betriebsprüfung bei ihr habe sich auch mit den Vorgängen zur Zeit der Antragstellung für die hier maßgeblichen Anträge befaßt. §§ 88 Abs. 2, 199 AO 1977 schrieben vor, daß bei der Betriebsprüfung die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zugunsten wie zuungunsten des Betroffenen zu prüfen und zu berücksichtigen seien. Auch aus diesem Grunde sei die Behörde verpflichtet gewesen, die Berichtigung wie beantragt vorzunehmen.
Bei einer so komplizierten Sach- und Rechtslage müsse einem Unternehmen, dem die Materie naturgemäß nicht so vertraut sei, eine gewisse Zeit zugebilligt werden, bis es auf die Möglichkeit fehlerhafter Sachbehandlung stoße, zumal die Sätze der Vergütung immer schwankten und deshalb dem Unternehmen die Übersicht erschwert sei. Es könne also nicht ohne weiteres feststellen, warum eine Zahl von der anderen abweiche, ob infolge veränderter Sätze oder wegen falscher Einstufung. Nach Entdecken der Möglichkeit einer Falschbehandlung müsse das Unternehmen noch etwas Zeit haben, um sich eine Meinung zu bilden, ob es ins Rechtsmittel gehe. Unter diesen Gesichtspunkten sei die verstrichene Zeit von ca. drei Monaten keinesfalls zu lang.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben; im übrigen hält sie an ihren in der Vorinstanz gestellten Anträgen fest.
Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Der rechtliche Ausgangspunkt des FG ist nicht zu beanstanden. Das FG ist ohne Rechtsirrtum von den Rechtsgrundsätzen ausgegangen, die der Senat in ständiger Rechtsprechung zur Frage der Berichtigung bestandskräftiger Bescheide entwickelt hat (vgl. zuletzt Urteil vom 27. Mai 1982 VII R 30/80, BFHE 136, 433, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Danach steht die Änderung bestandskräftiger Bescheide zugunsten des Betroffenen im Ermessen der Verwaltung. Die Ablehnung der Änderung ist im Regelfall nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Betroffene in der Lage war, die für die Berichtigung vorgebrachten Gründe im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Bescheid geltend zu machen. Mit dieser Begründung kann die Verwaltung die Berichtigung nur dann nicht ablehnen, wenn vom Betroffenen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles billigerweise nicht erwartet werden konnte. Einen solchen Ausnahmefall hat das FG zu Recht als nicht vorliegend erachtet. Der Senat verweist insoweit auf die Gründe der Vorentscheidung und macht sie sich zu eigen.
Die Einwendungen der Revision gegen diese Auffassung halten einer näheren Prüfung nicht stand.
Zu Unrecht beruft sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des Senats zu den sogenannten Serieneinfuhren. Mit dem im Urteil in BFHE 120, 2 entschiedenen Fall ist der vorliegende Sachverhalt nicht vergleichbar. Dort hatte die Verwaltung in der maßgebenden Rechtsfrage langfristig und nachhaltig in Übereinstimmung mit zwei höchstrichterlichen Urteilen eine bestimmte Rechtsmeinung vertreten, weswegen vom Betroffenen die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens billigerweise nicht erwartet werden konnte. Hier dagegen fehlt es an einem gleichartigen nachhaltigen Verwaltungshandeln; außerdem gab es im Zeitpunkt, zu dem sich für die Klägerin die Frage nach Einlegung eines Rechtsbehelfs stellte, keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der maßgebenden Frage, ob die ausgeführten Weine der Weinart A I oder A II zuzuordnen sind.
Der Senat läßt es dahinstehen, ob an den Grundsätzen der Begründung des Urteils in BFHE 94, 306, auf das sich die Klägerin ebenfalls beruft, noch festgehalten werden kann. Denn jedenfalls unterscheidet sich der dort entschiedene vom vorliegenden Fall in wesentlichen Punkten. Hier hat die Klägerin das Einspruchsverfahren nach Erlaß der in Frage stehenden Bescheide angestrengt; im Fall des Urteils in BFHE 94, 306 war das Rechtsbehelfsverfahren vorher durchgeführt worden. Dort war die Rechtslage während der ganzen Zeit unverändert geblieben. Hier betraf das Rechtsbehelfsverfahren, das die Klägerin angestrengt hat, eine Rechtslage, die sich gegenüber der Rechtslage, auf denen die in Frage stehenden Bescheide beruhten, durch das Inkrafttreten der VO Nr. 2448/75 geändert hatte. Es bestanden, wie sich aus den Feststellungen des FG ergibt, bereits vor Erlaß der streitigen Bescheide Meinungsverschiedenheiten zwischen der Klägerin und der Verwaltung über die maßgebende Rechtsfrage der Einordnung der ausgeführten Weine; dies mußte der Klägerin die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens geradezu aufdrängen.
Aus dem letztgenannten Grund ergibt sich auch entgegen der Auffassung der Klägerin die Vergleichbarkeit des vorliegenden Sachverhalts mit den durch die Urteile in BFHE 112, 233, in BFHE 133, 13 und in BFHE 136, 433 durch den Senat entschiedenen Sachverhalten. In jenen Fällen hatte der Senat die Ablehnung der Berichtigung durch die Verwaltung deswegen für ermessensfehlerfrei gehalten, weil die Umstände den Beteiligten die Anstrengung eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die dann später bestandskräftig gewordenen Bescheide nahegelegt hatten.
Nicht zu folgen ist der Auffassung der Klägerin, es habe wegen der komplizierten Sach- und Rechtslage die Notwendigkeit bestanden, ihr einen längeren Zeitraum für die Meinungsbildung zuzugestehen, ob ein Rechtsbehelfsverfahren angestrengt werden solle. Dieses Argument kann im Rahmen der der Verwaltung obliegenden Ermessensentscheidung keine Rolle spielen. Das Gesetz hat bestimmte Rechtsbehelfsfristen vorgesehen. Der Beteiligte hat seine Entscheidung, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, innerhalb dieser Frist zu treffen. Die gesetzlich vorgesehene Rechtsbehelfsfrist kann nicht gewissermaßen dadurch verlängert werden, daß von einer Ermessensbindung der Verwaltung ausgegangen wird, bestandskräftig gewordene Bescheide jeden falls dann zu berichtigen, wenn es sich um komplizierte Fälle handelt und die Bestandskraft noch nicht lange eingetreten ist. So hat der Senat im Urteil in BFHE 136, 433, 435 darauf hingewiesen, daß die Schwierigkeit, die Fehlerhaftigkeit eines Bescheids zu erkennen, für sich allein kein Grund ist, unter Außerachtlassung der Vorschriften über die Bestandskraft dem Beteiligten einen Rechtsanspruch auf die Berichtigung bestandskräftiger Bescheide zu geben.
Zu Unrecht beruft sich schließlich die Klägerin auf die §§ 88 Abs. 2, 199 AO 1977. Diese Vorschriften betreffen den Untersuchungsgrundsatz bzw. die Prüfungsgrundsätze des Außenprüfers, geben aber keinen Aufschluß darüber, unter welchen Voraussetzungen die Berichtigung bestandskräftiger Bescheide verlangt werden kann.
Fundstellen