Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Stundung einer Steuerforderung wegen einer sachlichen Härte
Leitsatz (NV)
1. Nach § 222 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn deren Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint.
2. Die Entscheidung der Finanzbehörde über eine Stundung ist eine Ermessensentscheidung. Eine ablehnende Entscheidung darf gem. § 102 FGO von den Gerichten nur daraufhin überprüft werden, ob die Finanzbehörden ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt haben.
3. Die Einziehung eines Steueranspruchs bei Fälligkeit kann eine erhebliche sachliche Härte bedeuten, wenn sie mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, daß der eingezogene Betrag dem Steuerpflichtigen alsbald wieder zu erstatten wäre. Entsprechendes gilt, soweit die Finanzbehörde die Erfüllung eines Anspruchs fordert, dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein in absehbarer Zeit fälliger Anspruch des Steuerpflichtigen gegenübersteht.
4. Die Einziehung eines Steueranspruchs stellt nicht deswegen eine erhebliche sachliche Härte dar, weil sie vor Abschluß eines einen negativen Feststellungsbescheid betreffenden Rechtsbehelfsverfahrens erfolgen soll. Die Entscheidung darüber, ob Steueransprüche wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens zunächst nicht eingezogen werden, ist grundsätzlich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 361 AO 1977, §§ 69 und 114 FGO) zu treffen. Zumindest dann, wenn ein Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz abgelehnt worden ist, bedeutet die Einziehung der bestrittenen Steueransprüche keine erhebliche sachliche Härte.
Normenkette
AO 1977 §§ 222, 361; FGO §§ 69, 114
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte nach seinen Angaben in den Jahren 1970 bis 1973 (Streitjahre) Verluste aufgrund einer Kommanditbeteiligung an der KG. Diese Verluste berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) bei den Einkommensteuerveranlagungen des Klägers für die Streitjahre nicht, weil das für die Besteuerung der KG zuständige Finanzamt (Betriebsfinanzamt) eine Beteiligung mehrerer Personen an den von der KG erzielten Einkünften verneint und einen entsprechenden negativen Feststellungsbescheid unter anderem für die Streitjahre erlassen hatte. Da gegen den Feststellungsbescheid Rechtsbehelf eingelegt worden war, stundete das FA dem Kläger jedoch bis Ende 1978 die sich aus der Nichtberücksichtigung der geltend gemachten Verlustanteile ergebenden Steuerbeträge für die Streitjahre.
Den Antrag des Klägers, diese Stundung über den 31. Dezember 1978 hinaus zu verlängern, lehnte das FA durch Verwaltungsakt vom 11. Oktober 1979 ab, nachdem ihm bekannt geworden war, daß das Finanzgericht (FG) durch Beschluß vom 29. November 1978 der KG den von ihr beantragten vorläufigen Rechtsschutz gegen den negativen Feststellungsbescheid nicht gewährt hatte.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Ablehnung des Antrags auf weitere Stundung hatte keinen Erfolg. Die Oberfinanzdirektion (OFD) begründete die Beschwerdeentscheidung sinngemäß wie folgt:
Eine Stundung von Ansprüchen aus Steuerschuldverhältnissen könne gemäß § 222 der Abgabenordnung (AO 1977) aus sachlichen Gründen geboten sein, soweit der geforderte Steuerbetrag kurzfristig und mit Sicherheit oder zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zurückzuzahlen sei. Im Streitfall seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
Aus dem Vortrag des Klägers und dem Akteninhalt ergebe sich nicht, daß die angeforderten Steuerbeträge dem Kläger wahrscheinlich wieder erstattet werden müßten. Vielmehr sei dies noch völlig ungewiß. Der negative Feststellungsbescheid und die Ablehnung des beantragten vorläufigen Rechtsschutzes durch das FG X sprächen dafür, daß die vom Kläger geltend gemachten Verlustanteile nicht zu berücksichtigen seien. Anhaltspunkte dafür, daß die Beschwerde der KG gegen die Entscheidung des FG X oder gar der Rechtsbehelf gegen den negativen Feststellungsbescheid erfolgreich sein werde, gebe es nicht.
Zudem sei auch nicht damit zu rechnen, daß bei Einziehung der bis Ende 1978 gestundeten Steueransprüche entsprechende Erstattungsansprüche des Klägers kurzfristig fällig würden. In dem Rechtsbehelfsverfahren wegen der negativen Feststellung sei bisher noch keine gerichtliche Entscheidung ergangen. Bis eine letztinstanzliche Entscheidung vorliege, werde noch längere Zeit vergehen.
An die Empfehlung des Betriebsfinanzamts, die Stundung weiter zu gewähren, seien das FA und die OFD nicht gebunden. Ohne Bedeutung sei auch, ob andere Wohnsitzfinanzämter der Empfehlung entsprochen hätten. Sollte dies in gleichgelagerten Fällen geschehen sein, so sei die Stundung zu Unrecht gewährt worden. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung stehe dem Kläger insoweit nicht zu, weil es ein Recht auf ,,Gleichheit im Unrecht" nicht gebe.
Auch die Tatsache, daß der Kläger an den die negative Feststellung betreffenden Verfahren nicht beteiligt sei und seine Interessen in diesen Verfahren deshalb von Dritten wahrnehmen lassen müsse, begründe entgegen der Auffassung des Klägers keinen Anspruch auf Stundung. § 222 AO 1977 diene grundsätzlich nicht dazu, gesetzliche Beschränkungen der Rechtsbehelfsbefugnis auszugleichen.
Die vom Kläger daraufhin erhobene Verpflichtungsklage wegen Stundung von Einkommensteuer, Ergänzungsabgabe und Kirchensteuer 1970 bis 1973, Arbeitnehmersparzulage 1972 und Stabilitätszuschlag 1973 wies das FG durch Urteil vom 13. Juni 1985 als unbegründet ab.
Gegen das FG-Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 8. Juli 1985 ,,In Sachen . . . wegen Stundung von Einkommensteuern 1970-1973" Revision eingelegt und diese am 3. September 1985 wie folgt begründet:
Die Entscheidung des FG beruhe auf einer unrichtigen Anwendung des § 222 AO 1977. Die Ungewißheit darüber, ob und wann dem Kläger bei Einziehung der angeforderten Steuern ein Erstattungsanspruch zustehe, rechtfertige die Ablehnung der Stundung nicht. Diese Ungewißheit sei auf die unzureichende personelle Ausstattung der FG und die sich daraus ergebende lange Dauer der finanzgerichtlichen Verfahren zurückzuführen; sie dürfe sich nicht zum Nachteil des Klägers auswirken. Das FG habe auch verkannt, daß die Stundungsempfehlung des mit den Verhältnissen der KG vertrauten Betriebsfinanzamts besonderes Gewicht habe.
Außerdem hat der Kläger sinngemäß mangelhafte Sachaufklärung durch das FG gerügt. Das FG habe einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz bei der Ermessensausübung durch die Finanzbehörden verneint, weil der Kläger nicht habe darlegen können, daß das FA oder die OFD durch Stattgabe eines Stundungsantrags in einem vergleichbaren Fall eine Selbstbindung für ihren territorialen Zuständigkeitsbereich geschaffen hätten. Da der Kläger über derartige behördeninterne Vorgänge naturgemäß nicht informiert sei, hätte das FG von Amts wegen den entsprechenden Sachverhalt aufklären müssen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Die Revision ist in vollem Umfang zulässig. Die Tatsache, daß nach dem Rubrum der Revisionsschrift vom 8. Juli 1985 die Revision ,,In Sachen . . . wegen Stundung von Einkommensteuern 1970 bis 1973" erhoben worden ist, führte nicht dazu, daß das angefochtene Urteil hinsichtlich der Entscheidung über die Stundung der anderen Steueransprüche mit Ablauf der Revisionsfrist rechtskräftig wurde.
Die rechtzeitige Einlegung der Revision hemmt grundsätzlich den Eintritt der Rechtskraft für das gesamte mit der Revision angefochtene Urteil (vgl. Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl., 1986, § 705 Tz. 4). Ausnahmsweise wird es teilweise rechtskräftig, wenn über mehrere Streitgegenstände oder über einen teilbaren Streitgegenstand entschieden und die Revision durch eine ausdrückliche und eindeutige Prozeßerklärung auf einen Teil der Streitgegenstände bzw. einen abtrennbaren Teil des Streitgegenstandes beschränkt worden ist.
Die Nichtnennung einzelner Steuerarten im Rubrum der Revisionsschrift ist keine derartige Prozeßerklärung (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. April 1986 VIII R 87/85, BFH/NV 1986, 690, und vom 20. Dezember 1988 VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585). Der Umfang der Revision wird grundsätzlich erst durch den Revisionsantrag und die Revisionsbegründung bestimmt. Die Angabe von Steuerarten, Zeiträumen, Zeitpunkten oder Rechtsbegriffen - wie z. B. des Begriffs ,,Stundung" - im Rubrum von Klage- bzw. Revisionsschriften dient erkennbar nur dazu, die Verfahrens- oder Streitgegenstände stichwortartig und somit nicht notwendig genau und vollständig zu bezeichnen. Sie soll in der Regel nicht den Klage- bzw. Revisionsantrag ersetzen. Das schließt allerdings nicht aus, daß bei einer etwa notwendigen Auslegung des Revisionsantrags diese Angaben im Rubrum mitberücksichtigt werden. Im Streitfall ist dies nicht erforderlich, denn Revisionsantrag und Revisionsbegründung sind nicht auslegungsbedürftig.
2. Die Revision ist nicht begründet.
a) . . .
b) Das angefochtene Urteil verstößt nicht gegen § 222 AO 1977.
Nach § 222 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn deren Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Entscheidung der Finanzbehörde über eine Stundung ist eine Ermessensentscheidung (BFH-Beschluß vom 5. und 13. Mai 1977 VII B 9/77, BFHE 122, 28, BStBl II 1977, 587); eine ablehnende Entscheidung darf gemäß § 102 FGO von den Gerichten nur daraufhin überprüft werden, ob die Finanzbehörden ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt haben (BFH-Urteil vom 6. Oktober 1982 I R 98/81, BFHE 138, 1, BStBl II 1983, 397).
Das FG hat zu Recht Ermessensfehler des FA und der OFD verneint.
Da der Kläger persönliche Stundungsgründe nicht vorgetragen hatte und solche für FA und OFD auch nicht erkennbar waren, durften diese sich hinsichtlich der Stundungsgründe auf die Prüfung beschränken, ob die Einziehung der Steueransprüche bei Fälligkeit für den Kläger eine erhebliche sachliche Härte bedeuten würde.
Die Einziehung eines Steueranspruchs bei Fälligkeit kann eine erhebliche sachliche Härte bedeuten, wenn sie mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, daß der eingezogene Betrag dem Steuerpflichtigen alsbald wieder zu erstatten wäre (BFH-Beschluß vom 21. Januar 1982 VIII B 94/79, BFHE 135, 23, BStBl II 1982, 307). Entsprechendes gilt, soweit die Finanzbehörde die Erfüllung eines Steueranspruchs fordert, dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein in absehbarer Zeit fälliger Anspruch des Steuerpflichtigen gegenübersteht (BFHE 138, 1, BStBl II 1983, 397).
Als die OFD über die Beschwerde entschied, lagen derartige Umstände nicht vor. Es war ungewiß, ob die Einziehung der angeforderten Steuerbeträge zu Erstattungsansprüchen des Klägers führen würde, denn der Ausgang des den negativen Feststellungsbescheid betreffenden Rechtsbehelfsverfahrens und des beim BFH anhängigen Beschwerdeverfahrens war nicht mit Sicherheit vorauszusagen. Zudem war die Dauer dieser Verfahren und somit die Fälligkeit etwaiger Erstattungsansprüche ungewiß. Anhaltspunkte dafür, daß dem Kläger andere alsbald fällige Erstattungsansprüche zustanden, waren nicht vorhanden.
Ohne Bedeutung ist, daß der Kläger keinen Einfluß auf die Dauer der Ungewißheit hatte. Für die Ablehnung der Stundung reichte es aus, daß ungewiß war, ob dem Kläger Erstattungsansprüche zustehen würden. Diese Ungewißheit hatte der Kläger zu vertreten. Er trug die Feststellungslast dafür, daß ihm Anteile an Verlusten der KG steuerlich zuzurechnen sind. Daß diese Zurechnung zweifelhaft war, beruhte auf dem Inhalt oder dem Vollzug der von ihm oder treuhänderisch für ihn geschlossenen Verträge.
Die Einziehung der Steueransprüche ist für den Kläger auch nicht etwa deshalb eine erhebliche sachliche Härte i. S. des § 222 AO 1977, weil sie vor Abschluß des den negativen Feststellungsbescheid betreffenden Rechtsbehelfsverfahrens und vor einer Entscheidung des BFH über die Beschwerde gegen den Beschluß des FG X vom 29. November 1978 erfolgen sollte. Zwar kann, wie § 361 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 und § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zeigen, die Einziehung bestrittener Steueransprüche vor Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens eine unbillige Härte sein. Die Entscheidung darüber, ob Steueransprüche wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens zunächst nicht eingezogen werden, ist aber grundsätzlich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 361 AO 1977, §§ 69 und 114 FGO) zu treffen. Zumindest dann, wenn ein Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz abgelehnt worden ist - wie im Streitfall durch das FG X -, bedeutet die Einziehung der bestrittenen Steueransprüche keine erhebliche sachliche Härte. Vielmehr entspricht sie dem Grundsatz, daß Steueransprüche bei Fälligkeit zu erfüllen sind und die Einlegung eines Rechtsbehelfs die Erhebung der Steuer nicht hemmt (§ 361 Abs. 1 AO 1977).
An die Stundungsempfehlung des Betriebsfinanzamts waren FA und OFD nicht gebunden. Für die Besteuerung des Klägers war nicht das Betriebsfinanzamt, sondern das FA als Wohnsitzfinanzamt zuständig (§ 18 Abs. 1 Nr. 2, § 19 Abs. 1 AO 1977). FA und OFD mußten ihr eigenes Ermessen ausüben. Daß sie dabei der Stundungsempfehlung des Betriebsfinanzamts keine ausschlaggebende Bedeutung zumaßen, ist nicht zu beanstanden. Die Empfehlung bestand lediglich in der Meinungsäußerung, daß das Betriebsfinanzamt ,,eine Verlängerung der Stundung . . . bis zu einem Monat nach der Entscheidung des BFH über die Beschwerde (gegen den Beschluß des FG X vom 29. November 1978) für angemessen halte". Angaben zur Erfolgsaussicht des Beschwerdeverfahrens enthielt die Empfehlung nicht.
Fundstellen