Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung

Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland.

Es bleibt offen, ob der Begriff „geschuldet“ i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, C-9/20, BFH/NV 2022 S. 399, sowie der Art. 167, Art. 179 Satz 1 MwStSystRL eine zeitliche Komponente enthält und deshalb dahin gehend zu verstehen ist, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden schon geschuldet werden muss, um vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).

Hintergrund: Gesetzliche Regelungen

Die Finanzbehörde kann gemäß § 20 Abs. 1 UStG unter weiteren Voraussetzungen auf Antrag gestatten, dass ein Unternehmer die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnet. Die Gestattung der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten ist ein begünstigender sonstiger Ermessens-Verwaltungsakt i. S. d. §§ 130, 131 AO.

Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden darf, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist. Erhält die Finanzbehörde von Tatsachen Kenntnis, welche den Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigen, so ist der Widerruf nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig (§ 131 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 130 Abs. 3 Satz 1 AO).

Sachverhalt: Widerruf der Ist-Besteuerung wegen Missbrauchs

Der Kläger ist Unternehmer und besteuert seine Umsätze aufgrund einer Genehmigung vom 2.4.1987, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt worden ist, nach vereinnahmten Entgelten. Im Sommer 2015 fand bei ihm eine Außenprüfung des Finanzamts (FA) statt. Der Prüferin fiel auf, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Firmen (Leistungsempfängerinnen) unternehmerisch tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer erteilt hatte, die von den Leistungsempfängerinnen jedoch nur über Verrechnungskonten gebucht und über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt wurden. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass ein zeitnaher Zufluss der Entgelte für die abgerechneten Leistungen beim Kläger nicht angestrebt worden sei, sondern hätte gezielt vermieden werden sollen.

Das FA widerrief daraufhin die Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten mit Bescheid v. 18.11.2015 zum 1.1.2016. Die sofortige Vornahme des Vorsteuerabzugs bei den Leistungsempfängerinnen bei fehlender Vereinnahmung der Entgelte für die Umsätze beim Kläger begründe bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die Gestattung missbraucht werde.

Der Einspruch des Klägers, mit dem er vortrug, die Ablehnung sei ermessensfehlerhaft auf Liquiditätsvorteile des leistenden Unternehmers gestützt worden, obwohl gerade die Stärkung der Liquidität kleiner und mittlerer Unternehmer Zweck der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten sei und Zinsnachteile der Finanzverwaltung vom Zweck der Vorschrift umfasst seien, wies das FA durch Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück.

FG teilt Auffassung der Finanzbehörde

Das FG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen, weil nach dessen Ansicht der Widerrufsgrund der Gefährdung des Steueraufkommens vorliege.

Unabhängig davon, ob es Zweck des § 20 UStG sei, kapitalschwache Unternehmen von den Belastungen der Sollbesteuerung auszunehmen, oder ob § 20 UStG lediglich der Verfahrensvereinfachung diene und die Liquiditätsvorteile lediglich hingenommen würden, sei es mit beiden genannten Zwecken vereinbar, die Genehmigung nach § 20 UStG zu versagen beziehungsweise zu widerrufen, wenn das Zusammenspiel von § 20 UStG einerseits und § 15 UStG andererseits die Gefahr des Missbrauchs und des Steuerausfalls nahelege. Die Vornahme des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger bei gleichzeitig fehlenden Umsätzen beim leistenden Unternehmen rechtfertige bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die dem leistenden Unternehmen erteilte Zustimmung gemäß § 20 UStG missbraucht werde.

Entscheidung: Gefährdung des Steueraufkommens kein Ablehnungsgrund

Der BFH entscheidet, dass die Revision des Klägers begründet ist. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Stattgabe der Klage. Das FA könne sich auf die von ihm bejahte Gefährdung des Steueraufkommens nicht berufen, weil den Leistungsempfängern des Klägers der Vorsteuerabzug nach Art. 167 MwStSystRL erst zustehe, wenn diese die Umsatzsteuer an den Kläger gezahlt hätten. Ob dieses Ergebnis im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen durch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG gefunden werden könne oder der Gesetzgeber dazu zunächst das nationale Recht anpassen müsse, bedürfe im Streitfall keiner Entscheidung.

Im Streitfall habe das FA den Widerruf darauf gestützt, dass die Vornahme des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger bei gleichzeitig fehlenden Umsätzen beim leistenden Unternehmer bei nahestehenden Personen die Vermutung begründe, dass die dem leistenden Unternehmer erteilte Gestattung missbraucht werde. Dies treffe indes nicht zu, weil Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegen stehe, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entstehe, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL erst bei Vereinnahmung des Entgelts entstehe und dieses noch nicht gezahlt worden sei. Das Recht auf Vorsteuerabzug werde nämlich nach Art. 167, 179 Satz 1 MwStSystRL grundsätzlich während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, d. h., wenn der Anspruch auf die Steuer entstehe.

Das bedeute, dass es zu dem von FA und FG bejahten Missbrauch kraft Unionsrechts nicht kommen könne. Die Frage, ob dem leistenden Unternehmer die Ist-Besteuerung gestattet werde, habe nur Auswirkung darauf, ob sowohl die Umsatzsteuer als auch das Recht auf Vorsteuerabzug bereits bei Ausführung des Umsatzes (Art. 63 MwStSystRL) oder erst bei Vereinnahmung (Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL) entstehen würden. Ein zeitliches Auseinanderfallen, das durch den Widerruf der Gestattung gegenüber dem Kläger verhindert werden solle, sei unionsrechtlich nicht möglich. Es beruhe nicht auf dem von FA und FG beanstandeten Verhalten des Klägers, sondern – wenn überhaupt – auf der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts in Deutschland.

Richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts bei Leistungsempfängerinnen möglich?

Ob das dargestellte Ergebnis im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen seit dem Besteuerungszeitraum 2016, zu dem der Widerruf erfolgen sollte, durch richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts erreicht werden könne, bedürfe vorliegend keiner Entscheidung. Eine dem Art. 167 MwStSystRL vergleichbare Vorschrift enthalte das nationale Recht bisher nicht ausdrücklich.

§ 13 UStG regele nur die Entstehung der Steuer und nicht die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Von der nach § 16 Abs. 1 UStG berechneten Steuer seien nach § 16 Abs. 2 UStG die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG regele, dass der Unternehmer u. a. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen könne.

Für die Auslegung dieser Vorschriften könnte bedeutsam sein, dass aufgrund der Rechtsprechung des EuGH der BFH § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Wege richtlinienkonformer Auslegung dahin gehend einschränkend ausgelegt habe, dass nicht jeder, sondern nur der „geschuldete“ Steuerbetrag als Vorsteuer abziehbar sei. Diese vom BFH bereits vorgenommene, das frühere Verständnis des § 15 UStG einschränkende Auslegung könnte auch eine zeitliche Komponente beinhalten: Der Begriff „geschuldet“ i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG könnte im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 v. 10.2.2022, C‑9/20, BFH/NV 2022 S. 399, sowie des Art. 167 MwStSystRL dahin gehend zu verstehen sein, dass die Steuer schon geschuldet werden müsse, um als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden dürfe, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet werde).

Darauf komme es im Streitfall, in dem nur über den Widerruf der Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten des Klägers zu entscheiden sei, indes nicht an. Darüber sei vielmehr in den Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen zu entscheiden. Sollte den Leistungsempfängerinnen der Vorsteuerabzug nicht zu versagen sein, obwohl der Kläger die Umsatzsteuer möglicherweise noch nicht vereinnahmt habe, wäre dies vom Mitgliedstaat Deutschland hinzunehmen.

BFH, Urteil v. 12.7.2023, XI R 5/21; veröffentlicht am 7.12.2023

Alle am 7.12.2023 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen


Schlagworte zum Thema:  Umsatzsteuer, Vorsteuerabzug, Entgelt