Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (NV)
Das FA trifft kein Verschulden an der Fristversäumnis, wenn der für die Bearbeitung der Rechtsmittel und die Führung des Fristenkontrollbuchs zuständige Sachgebietsleiter auf dem Entwurf der Nichtzulassungsbeschwerde eine Wiedervorlageverfügung ,,WV nach Eingang" getroffen hatte, ihm der eingegangene Zulassungsbeschluß jedoch von der mit der Aktenführung beauftragten und dafür geschulten Sachbearbeiterin nicht vorgelegt wird.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist innerhalb der Antragsfrist zu begründen.
Normenkette
FGO §§ 56, 115 Abs. 5 S. 4, § 120 Abs. 1 S. 1; AO 1977 § 110 Abs. 2 S. 1
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) mit Haftungsbescheid für Steuerrückstände der GmbH in Anspruch, deren alleiniger Geschäftsführer der Kläger war. Der Haftungsbescheid wurde dem Kläger im Juli 1989 zugestellt. Die Empfangsbescheinigung ist unterschrieben mit dem Familiennamen des Klägers in Druckbuchstaben.
Mit beim FA im Februar 1990 eingegangenem Schreiben legte der Kläger Einspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die Versäumung der Einspruchsfrist. Zur Begründung führte er aus, er habe den Haftungsbescheid nicht erhalten. Dieser möge seiner Ehefrau vom Briefträger ausgehändigt worden sein. Diese habe ihn aber keinesfalls an ihn - den Kläger - übergeben. Das ergebe sich schon daraus, daß er sämtliche ihm zugehenden Schreiben von rechtlicher Bedeutung seinem Prozeßbevollmächtigten und dessen Sozius aushändige, sich der Haftungsbescheid aber nicht unter diesen Schreiben befinde. Erst durch die Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vom . . . habe er von der Existenz des Bescheides erfahren.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig; die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stnd gewährte es nicht.
Das Finanzgericht (FG) hob die Einspruchsentscheidung auf. Es hielt die Klage für begründet, weil das FA dem Kläger zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Einspruchsfrist nicht gewährt habe. Der Kläger sei ohne Verschulden gehindert gewesen, die Einspruchsfrist zu wahren, weil er den Haftungsbescheid nach seinem glaubhaften Vorbringen nicht erhalten habe. Ein etwaiges in der Nichtweiterleitung des Bescheides liegendes Verschulden seiner Ehefrau brauche sich der Kläger nicht anrechnen zu lassen, weil diese nicht sein Vertreter, sondern nur Hilfsperson gewesen sei.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des FA hin ließ das FG die Revision zu. Der Beschluß darüber wurde dem FA am . . . zugestellt. Ein Rechtsmittel wurde innerhalb der Revisionsfrist nicht eingelegt.
Das FA beantragte mit dem beim FG am . . . eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte gleichzeitig Revision ein.
Zur Begründung seines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trägt das FA vor, die Fristversäumnis sei entschuldbar. Der zuständige Sachgebietsleiter habe die Nichtzulassungsbeschwerde entsprechend einer beim FA bestehenden, für alle Revisionsverfahren geltenden Anordnung selbst gefertigt. Im Verfügungsteil des Entwurfs habe er angeordnet: ,,WV nach Eingang." Als Vertreter des Vorstehers habe er den Zulassungsbeschluß des FG am . . . zusammen mit der übrigen Eingangspost des FA erhalten. Dabei sei es ihm nicht möglich gewesen zu erkennen, daß der Beschluß auf die Nichtzulassungsbeschwerde des FA hin ergangen sei. Die Poststelle habe den Beschluß der für die Aktenführung zuständigen Sachbearbeiterin zugeleitet. Diese habe es jedoch entgegen seiner Verfügung versäumt, ihm die Akte nach Eingang des Beschlusses vorzulegen. Er habe von dem Eingang des Beschlusses erst durch Eingang des Kostenfestsetzungsbeschlusses am . . . Kenntnis erhalten. Die Sachbearbeiterin sei nur für die Führung der Akten zuständig gewesen, selbst das Fristenkontrollbuch sei von dem Sachgebietsleiter geführt worden. Dieser habe die Frist nicht eingetragen, weil die Wiedervorlageverfügung von der Sachbearbeiterin nicht beachtet worden sei. Die Sachbearbeiterin - eine Steueroberinspektorin - arbeite im übrigen fehlerfrei. Sie sei gut ausgebildet und wegen ihrer besonderen Qualifikation in der Rechtsbehelfsstelle eingesetzt. Es habe sich im vorliegenden Fall um einen unerwarteten und ungewöhnlichen Fehler gehandelt.
Seine Revision begründet das FA damit, daß das FG in seinem Urteil von der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) abgewichen sei, wonach die Tatsachen, die zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berechtigen, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist vorgetragen werden müssen. Der Kläger habe seinen Antrag auf Wiedereinsetzung vom . . . aber erst mit Schreiben vom . . . - beim FA eingegangen am . . . - begründet. Zu diesem Zeitpunkt sei der Kläger wegen Fristablaufs mit dem Vortrag von Wiedereinsetzungsgründen ausgeschlossen gewesen.
Der Kläger hält die Revision des FA für unzulässig, weil sie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist eingelegt wurde und die verspätete Einlegung nicht gemäß § 56 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entschuldigt sei. Der für die Bearbeitung der Revisionssachen zuständige Sachgebietsleiter habe, als er in Vertretung des Vorstehers den Zulassungsbeschluß mit der übrigen Eingangspost erhalten habe, unverzüglich die Eintragung der Revisionsfrist im Fristenkontrollbuch vornehmen müssen. Die Sachbearbeiterin habe davon ausgehen können, daß die Eintragung der Frist durch den Sachgebietsleiter bereits geschehen sei, als der Beschluß ihr von diesem zugeleitet wurde, und die Wiedervorlageverfügung auf dem Entwurf der Nichtzulassungsbeschwerde damit erledigt gewesen sei. Die Unterlassung der Fristennotierung durch den organschaftlich tätigen ,,Mitarbeiter" des FA gereiche dem FA zum Verschulden. Wenn der Sachgebietsleiter sich bei der erstmaligen Kenntnisnahme von dem Beschluß nicht an Einzelheiten habe erinnern können, hätte er auf dem Beschluß dessen sofortige Wiedervorlage zwecks Fristeintragung anordnen müssen.
Die Revision sei im übrigen unbegründet. Aus § 110 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) ergebe sich nicht, daß die den Wiedereinsetzungsantrag begründenden Tatsachen innerhalb der Antragsfrist mitgeteilt werden müßten. Die Erwägungen des FG zur Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags seien sachgerecht und ließen einen Verstoß gegen Denkgesetze nicht erkennen.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision des FA ist zulässig.
Zwar hielt das FA die Revisionsfrist von einem Monat (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) nicht ein, die gemäß § 115 Abs. 5 Satz 4 FGO mit der Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision am . . . in Lauf gesetzt wurde. Der Senat gewährt dem FA wegen Versäumung dieser Frist jedoch auf dessen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil das FA die Frist ohne Verschulden nicht eingehalten hat (§ 56 Abs. 1 FGO).
Nach der Rechtsprechung des BFH gelten die Grundsätze der FGO über Fristversäumnis und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für das FA in gleicher Weise wie für einen Steuerpflichtigen (BFH-Beschluß vom 10. Oktober 1961 I 63/60 U, BFHE 73, 795, BStBl III 1961, 555; Beschluß vom 1. Oktober 1981 IV R 100/80, BFHE 134, 220, BStBl II 1982, 131). Das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten steht dem eigenen Verschulden des FA gleich (BFH-Urteil vom 28. März 1969 III R 2/67, BFHE 96, 85, BStBl II 1969, 548; BFH-Beschluß vom 7. März 1989 VII R 120/87, BFH/NV 1989, 791). Dabei schließt jedes Verschulden - also auch einfache Fahrlässigkeit - die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (BFH-Urteil vom 4. März 1986 VII R 78/84, BFH/NV 1986, 622, 624; Beschluß vom 11. Oktober 1991 VII R 32/90, Juristisches Informationssystem des Bundes - JURIS -).
Den Sachgebietsleiter, der nach einer entsprechenden Anordnung des FA für die Bearbeitung der Revisionssachen allein zuständig war und insoweit zumindest die Stellung eines Bevollmächtigten inne hatte, trifft im Streitfall jedoch kein Verschulden. Er hat mit der Wiedervorlageverfügung auf dem Entwurf der Nichtzulassungsbeschwerde das organisatorisch Erforderliche veranlaßt, um bei Eingang des Beschlusses dessen sofortige Vorlage mit dem dazugehörigen Aktenvorgang bei sich sicherzustellen. Diese Verfügung richtete sich an die mit der Aktenführung betraute und dafür - wie das FA glaubhaft gemacht hat - geschulte Sachbearbeiterin. Die Verfügung stellte eine in bezug auf den betreffenden Vorgang getroffene Einzelweisung dar. Ihrem Sinn nach war sie eindeutig dahin zu verstehen, daß in dem Einzelfall, für die sie getroffen war, die diesen Fall betreffenden Akten zusammen mit dem Eingang sofort dem Sachgebietsleiter vorzulegen waren. Die Vorlageanordnung war zwar erforderlich, weil der Sachgebietsleiter selbst die Rechtsmittel bearbeitete und insbesondere selbst das Fristenkontrollbuch führte. Eine etwa zu beachtende Frist war vom Sachgebietsleiter eigenhändig in das Fristenkontrollbuch einzutragen. Der Sachgebietsleiter durfte aber aufgrund seiner Verfügung mit der sofortigen Wiedervorlage des Vorgangs zusammen mit der eingegangenen, die Frist auslösenden Entscheidung rechnen und wäre dann bei ordnungsgemäßer Befolgung seiner diesen Fall betreffenden Verfügung in der Lage gewesen, das in diesem Fall Erforderliche für die Überwachung und Einhaltung der Frist zu veranlassen (vgl. BFH-Urteil vom 29. November 1988 VII R 36/88, BFH/NV 1989, 520).
Mit diesem Ergebnis setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH - (Beschluß vom 3. Juli 1991 XII ZB 39/91, BGH-Rechtsprechung Zivilsachen, Zivilprozeßordnung - ZPO -, § 233 Nr. 18 und 19), in der dieser es nicht für ausreichend hält, wenn ein Rechtsanwalt auf einer durch ihre Zustellung die Frist auslösende Entscheidung die ,,WV m. A." verfügt. Der BGH hielt diese Verfügung, weil sie allgemein an die Kanzlei gerichtet war, nicht für konkret genug. Im vorliegenden Fall richtete sich die Verfügung jedoch an eine bestimmte, mit der Aktenführung speziell betraute Sachbearbeiterin, so daß die Bedenken des BGH in diesem Fall nicht durchgreifen.
Auch die Entscheidungen des BFH (Beschluß vom 24. Juli 1989 III R 83/88, BFH/NV 1990, 248) und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluß vom 27. Juni 1984 9 B 3209/82, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1986, 30), die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ablehnen, wenn auf der die Frist auslösenden Entscheidung nur die Wiedervorlage der Akten verfügt, nicht aber auch die Frist im Fristenkontrollbuch eingetragen wurde, treffen den vorliegenden Fall nicht. Nach den Umständen dieses Falles ist davon auszugehen, daß die Wiedervorlageverfügung hier gerade die weitere sachgerechte Bearbeitung nach Eingang der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde und damit bei Erfolg dieser Beschwerde in erster Linie sicherstellen sollte, daß nach Eingang des Beschlusses die Frist in dem vom Sachgebietsleiter geführten Fristenkontrollbuch eingetragen werden konnte. Daran war der Sachgebietsleiter ohne sein Verschulden gehindert, weil seine Verfügung von der dadurch angewiesenen Sachbearbeiterin nicht beachtet wurde.
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist es im Streitfall ohne Bedeutung, ob der Sachgebietsleiter bei Durchsicht der Eingangspost in seiner Eigenschaft als Vertreter des Vorstehers aus dem eingegangenen Beschluß erkennen konnte oder damit rechnen mußte, daß dieser Beschluß eine Frist für das FA auslöste.
Da den Sachgebietsleiter somit kein Verschulden an der Fristversäumnis trifft, war es nicht erforderlich, auf die Bedenken des Klägers hinsichtlich der Anwendung der erforderlichen Sorgfalt des FA bei der Auswahl des Sachgebietsleiters einzugehen.
Ein Verschulden trifft jedoch die Sachbearbeiterin, weil sie den Vorgang entgegen der darin befindlichen Verfügung nicht dem Sachgebietsleiter vorgelegt hat. Ihr Verschulden ist aber dem FA nicht anzurechnen, weil sie weder dessen gesetzliche Vertreterin noch bevollmächtigt war, Revisionssachen des FA zu bearbeiten. Ihr oblag nach der unbestrittenen Schilderung des FA bei Revisionssachen nur die Führung der Akte. Sie war daher insoweit als ,,Botin" ohne eigene Entscheidungsbefugnisse anzusehen (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 73, 795; Urteil vom 11. Januar 1983 VII R 92/80, BFHE 137, 399, 402, BStBl II 1983, 334; Beschluß vom 16. März 1989 VII R 82/88, BFHE 156, 79, BStBl II 1989, 569).
Ihr Verschulden wäre dem FA daher nur zuzurechnen, wenn es bei der Auswahl der Sachbearbeiterin nicht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen wäre und die erforderliche Aufsicht unterlassen hätte. Aufgrund der glaubhaften Darstellung des FA hat der Senat keine Zweifel daran, daß das FA insoweit die erforderliche Sorgfalt hat walten lassen und die notwendige Aufsicht geführt hat. Denn unbestritten hat das FA vorgetragen, daß die Sachbearbeiterin für ihren Posten besonders qualifiziert war und bisher fehlerfrei gearbeitet hat. Unter diesen Umständen war es nicht erforderlich, der Sachbearbeiterin über die gegebenen Einzelanweisungen hinaus weitere Anweisungen zu geben oder sie besonders zu beaufsichtigen.
2. Die Revision des FA ist auch begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Das FG hat rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, daß der Kläger seinen Wiedereinsetzungsantrag erst nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977) begründet hat. Denn nach ständiger Rechtsprechung sind alle Tatsachen, die den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen, innerhalb der Antragsfrist nach § 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 vorzutragen (vgl. BFH-Urteil vom 27. März 1985 II R 118/83, BFHE 144, 1, BStBl II 1985, 586 zu der entsprechenden Vorschrift des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO und BGH-Beschluß vom 25. März 1987 IV b ZB 39/87, HFR 1988, 539 zu § 234 Abs. 1 ZPO). Der Senat folgt dieser Rechtsprechung.
Der Kläger hat nach seinem eigenen Vortrag durch die Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung vom . . . von der Existenz des Haftungsbescheids erfahren. Seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom . . . begründete er aber erst mit Schriftsatz vom . . ., also nach Ablauf der in § 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 gesetzten Antragsfrist von einem Monat. Das FA hat daher zu Recht den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt und seinen Einspruch als unzulässig verworfen.
Fundstellen
Haufe-Index 418465 |
BFH/NV 1993, 6 |