Entscheidungsstichwort (Thema)
Teilweise Rücknahme eines Haftungsbescheids nach Klageerhebung; Ermessensbetätigung
Leitsatz (NV)
1. Wird ein Haftungsbescheid nur teilweise zurückgenommen, so bleibt der Regelungsgehalt des ursprünglichen Haftungsbescheids wirksam, soweit er von der teilweisen Rücknahme nicht betroffen worden ist. Ein Antrag nach § 68 FGO ist insoweit nicht erforderlich, wenn der Haftungsbescheid teilweise nach Klageerhebung zurückgenommen wird.
2. Ein Haftungsbescheid kann wegen versäumter, nach § 191 AO 1977 vorgeschriebener Ermessensbetätigung nur dann rechtsfehlerhaft sein, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß tatsächlich mehrere Haftende in Betracht kommen, ohne daß das FA dies beachtet hat. Dazu hat das FG ggf. eigene Feststellungen gem. § 76 FGO zu treffen.
Normenkette
FGO §§ 68, 76; AO 1977 §§ 35, 69, 75, 130 ff., § § 172 ff., § 191
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war alleiniger Geschäftsführer der GmbH. Gesellschafter der GmbH waren der Kläger und H zu gleichen Teilen. Am . . . stellte die GmbH, vertreten durch den Kläger, Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über ihr Vermögen, der jedoch mangels Masse abgewiesen wurde. Am . . . wurde die GmbH von Amts wegen gelöscht.
Mit Haftungsbescheid vom Dezember 1988 forderte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) vom Kläger die Zahlung der einbehaltenen, aber nicht abgeführten Lohn- und Lohnkirchensteuer einschließlich steuerlicher Nebenleistungen in Höhe von . . .DM, weil bei der GmbH die rückständigen Steuern nicht mehr beizutreiben waren. Auf den Einspruch des Klägers ermäßigte das FA den Haftungsbetrag in seiner Einspruchsentscheidung vom September 1989 auf . . .DM. Dagegen erhob der Kläger Klage, die Gegenstand dieses Verfahrens ist.
Im Dezember 1989 erließ das FA einen ,,geänderten Haftungsbescheid nach § 131 AO" über die genannten Steuern und steuerlichen Nebenleistungen in Höhe von . . .DM. Die Differenz zu der in der Einspruchsentscheidung vom September 1989 genannten Haftungssumme beruhte darauf, daß das FA von der Inanspruchnahme des Klägers für Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer des Monats . . . absah. Gegen die den Einspruch gegen den geänderten Haftungsbescheid zurückweisende Einspruchsentscheidung des FA vom Juli 1990 erhob der Kläger Klage, diese ist Gegenstand des Revisionsverfahrens . . .
Im Februar 1991 erließ das FA - ohne daß vorher ein weiterer ändernder Haftungsbescheid erging - eine Einspruchsentscheidung, die hinsichtlich der Haftungssumme und des Haftungszeitraums der Einspruchsentscheidung vom Juli 1990 entsprach, aber eine ausführlichere Begründung enthielt. In der Einspruchsentscheidung teilte das FA mit, daß ,,diese Entscheidung an die Stelle der Einspruchsentscheidung vom . . . Juli 1990 tritt". Der Kläger erhob gegen die Einspruchsentscheidung vom Februar 1991 Klage, die Gegenstand des Revisionsverfahrens . . . ist.
Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid vom Dezember 1988 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom September 1989 mit Urteil vom . . . mit der Begründung auf, eine Haftung des Klägers für den Haftungszeitraum . . . komme nicht mehr in Betracht. Im übrigen habe das FA hinsichtlich der restlichen Zeiträume sein Auswahlermessen nicht ausgeübt, weil es versäumt habe, zwischen dem Kläger und dem - möglicherweise - verfügungsberechtigten H als Haftungsschuldner auszuwählen. Der Umstand, daß das FA sein Auswahlermessen nach Ergehen der Einspruchsentscheidung vom September 1989 ausgeübt habe, sei unbeachtlich, weil die Ermessensentscheidung grundsätzlich anhand der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und ein Nachschieben von Ermessenserwägungen unzulässig sei.
Mit seiner dagegen eingelegten Revision macht das FA u.a. geltend, die Entscheidung über den ursprünglichen Haftungsbescheid vom Dezember 1988 hätte bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über den Haftungsbescheid vom Dezember 1989 ausgesetzt werden müssen. Die dennoch ergangene Entscheidung sei rechtswidrig.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Da die Sache nicht spruchreif ist, wird sie zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das FG ist zunächst rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, der ,,Änderungsbescheid" vom Dezember 1989 sei bei der Entscheidung über den angefochtenen Haftungsbescheid vom Dezember 1988 mangels eines vom Kläger gemäß § 68 FGO gestellten Antrags nicht zu berücksichtigen.
a) Wie der Bundesfinanzhof (BFH) bereits entschieden hat, sind nach der Abgabenordnung (AO 1977) für Haftungsbescheide die Vorschriften über die Änderung von Steuerbescheiden (§§ 172 ff. AO 1977) nicht mehr sinngemäß anzuwenden (Urteile vom 28. Januar 1982 V R 100/80, BFHE 135, 27, BStBl II 1982, 292; vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791). Es gelten vielmehr die allgemeinen Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten (§§ 130 ff. AO 1977).
Das schließt zwar die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 68 FGO im Falle eines geänderten Haftungsbescheids nicht aus. Im vorliegenden Fall ist jedoch § 68 FGO nicht anzuwenden, weil der ursprüngliche Haftungsbescheid nicht durch den weiteren Haftungsbescheid vom Dezember 1989 geändert oder ersetzt, sondern nur teilweise zurückgenommen worden ist.
b) Das FA hat in seinem Haftungsbescheid vom Dezember 1989 zwar § 131 AO 1977 als Grundlage für die Änderung des Haftungsbescheids angegeben, obwohl § 130 AO 1977 in diesem Fall anzuwenden ist, weil nur die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts in Betracht kommt. Das beeinträchtigt aber die Wirksamkeit dieses Bescheids nicht, weil die Angabe der Rechtsgrundlage nicht notwendiger Bestandteil eines Verwaltungsakts ist.
c) Nach § 130 Abs. 1 AO 1977 kann der Haftungsbescheid ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Dementsprechend hat das FA den Haftungsbescheid vom Dezember 1988 durch den Änderungsbescheid vom Dezember 1989 insoweit zurückgenommen, als es von der Inanspruchnahme des Klägers für die Lohn- und Lohnkirchensteuern des Monats . . . absah.
Darin liegt keine vollständige Korrektur des ursprünglichen Haftungsbescheids, sondern nur dessen teilweise Rücknahme. Denn das FA hat den ursprünglichen Bescheid nicht ausdrücklich zurückgenommen und durch den Haftungsbescheid vom Dezember 1989 ersetzt, sondern lediglich die Haftungssumme herabgesetzt, indem es bei ihrer Berechnung die ursprünglich zuviel angeforderten Beträge nicht mehr berücksichtigte. Der Umstand, daß das FA im Haftungsbescheid vom Dezember 1989 erneut eine Begründung für die Inanspruchnahme des Klägers gegeben hat, rechtfertigt nicht die Annahme, daß der Haftungsbescheid vom Dezember 1988 durch den Haftungsbescheid vom Dezember 1989 geändert oder ersetzt werden sollte. Denn die Begründung des Haftungsbescheids vom Dezember 1989 entspricht - abgesehen von der Erläuterung der Herabsetzung des Haftungsbetrages - wörtlich der des ursprünglichen Haftungsbescheids und stellt insoweit nur eine unbeachtliche Wiederholung der früheren Begründung dar.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände läßt auch der Hinweis des FA auf die Möglichkeit, einen Antrag nach § 68 FGO zu stellen, nicht darauf schließen, daß der ursprüngliche Bescheid durch den weiteren geändert oder ersetzt worden ist. Bei dem Hinweis handelt es sich vielmehr um eine unzutreffende Rechtsbelehrung, die an dem sonstigen Inhalt des Bescheids nichts ändert.
Infolge der nur teilweisen Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids ist der Regelungsgehalt des ursprünglichen Haftungsbescheids wirksam geblieben, soweit er von der teilweisen Rücknahme nicht betroffen worden ist. Der Haftungsbescheid vom Dezember 1988 gilt daher nach Maßgabe der inhaltlichen Beschränkung, die er durch die Teilrücknahme gefunden hat, fort (BFH-Urteile in BFHE 135, 27, BStBl II 1982, 292, und vom 6. März 1990 VII R 132/87, BFH/NV 1991, 7; Beschlüsse vom 20. Oktober 1987 VII B 82/87, BFH/NV 1988, 387 und vom 18. März 1986 VII B 33/85, BFH/NV 1987, 143). Nur über diesen Bescheid hatte das FG zu entscheiden.
Dazu war es nicht erforderlich, daß der Kläger einen Antrag nach § 68 FGO stellte, weil die Teilrücknahme nicht als Ersetzung oder Änderung eines Verwaltungsakts i.S. von § 68 FGO verstanden werden kann (BFH-Urteil in BFHE 135, 27, BStBl II 1982, 292).
2. Der Senat folgt dem FG nicht in seiner Auffassung, daß der Haftungsbescheid vom Dezember 1988 auch deswegen hätte aufgehoben werden müssen, weil das FA es versäumt hat, zwischen dem Kläger und dem möglicherweise verfügungsberechtigten H auszuwählen. Es trifft zwar zu, daß das FA auch in seiner Einspruchsentscheidung vom September 1989 keine Ausführungen dazu gemacht hat, warum es den Kläger statt des H in Anspruch genommen hat. Hierin ist aber nur dann ein Rechtsfehler wegen einer versäumten, aber nach § 191 AO 1977 vorgeschriebenen Ermessensbetätigung zu sehen, wenn H neben dem Kläger als Haftender in Betracht kommt. Die Klärung letzterer Frage kann nur aufgrund entsprechender Feststellungen des FA und des FG geschehen. Dabei kommt es insoweit nicht wie bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung auf die Umstände an, wie sie sich im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dargestellt haben (BFH-Urteil vom 1. Juli 1981 VII R 84/80, BFHE 134, 79, BStBl II 1981, 740; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 102 Rz.13 m.w.N.), sondern es kommt auf die Sachlage an, wie sie im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung festgestellt wird (Gräber/von Groll, a.a.O., § 100 Rz.5 ff.).
Insoweit hätte das FG daher gemäß § 76 FGO Feststellungen zu der Frage treffen müssen, ob H neben dem Kläger überhaupt als Haftender - sei es als Verfügungsberechtigter nach §§ 69, 35 AO 1977 oder als Betriebsübernehmer nach § 75 AO 1977 - in Betracht kommt, denn nur dann hätte Anlaß zur Begründung des Auswahlermessens durch das FA bestanden (BFH-Urteil vom 29. Mai 1990 VII R 81/89, BFH/NV 1991, 283).
Das FA ist erkennbar von Anfang an davon ausgegangen, daß neben dem Kläger als alleinigen Geschäftsführer der GmbH kein weiterer Haftender in Betracht kommt. Diese Auffassung hat es auch nach weiteren Ermittlungen, die es nach Erlaß der Einspruchsentscheidung vom September 1989 durchgeführt hat, als bestätigt angesehen (Einspruchsentscheidung vom Februar 1991), so daß für das FA unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung die Ausübung eines Auswahlermessens nicht geboten war. Die Frage, ob ein Nachschieben von Ermessenserwägungen nach dem Erlaß der Einspruchsentscheidungen vom September 1989 und vom Juli 1990 noch möglich war, stellt sich daher nicht. Überlegungen zum Auswahlermessen hat das FA in der Einspruchsentscheidung vom Februar 1991 im übrigen nur hilfsweise angestellt.
Da das FG keine Feststellungen zu der Frage getroffen hat, ob eine Haftung des H neben dem Kläger überhaupt in Betracht kommt, ist die Sache nicht spruchreif und daher an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das FG wird insbesondere die zur Beurteilung dieser Frage erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben.
Fundstellen