Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweislastverteilung bei Änderungen bestandskräftiger Steuerbescheide gemäß § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977
Leitsatz (amtlich)
Ändert das FA einen bestandskräftigen Steuerbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, so trägt es grundsätzlich die objektive Beweislast (Feststellungslast) dafür, daß die für die Änderung des Bescheides erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, insbesondere dafür, daß diese "neu" sind. Die Beweislast trifft jedoch den Steuerpflichtigen, wenn dieser die Verletzung der Ermittlungspflichten durch das FA rügt.
Orientierungssatz
Hier: Der Steuerpflichtige hatte in seiner Steuererklärung nachweislich unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht. Da sich seine Behauptung, er habe mit der Steuererklärung ergänzende Unterlagen vorgelegt, nicht beweisen ließ, blieb er beweisfällig. Der Steuerpflichtige und nicht das FA mußte sich die aus der Beweislage ergebenden Konsequenzen anlasten lassen.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 88
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist nichtselbständiger Elektroinstallateur mit inländischem Wohnsitz. Er war (auch) im Streitjahr 1992 für ein inländisches Unternehmen tätig und wurde auf in- und ausländischen Baustellen eingesetzt.
In seiner am 15. März 1994 eingereichten Erklärung zur Einkommensteuer 1992 ist --unter Hinweis auf beigefügte Belege und Unterlagen, über die sich aus den Steuerakten im einzelnen nichts ergibt-- ein Bruttoarbeitslohn von 40 980 DM eingetragen. Überdies wurde ein nach Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreier Arbeitslohn von 4 802 DM erklärt. Als Werbungskosten machte der Kläger u.a. 3 540 DM für Fahrten Wohnung/Arbeitsstätte an 165 Tagen sowie Übernachtungskosten von 1 698 DM geltend. - An der Erstellung der Erklärung wirkten sein Prozeßbevollmächtigter als Steuerberater sowie ein Mitarbeiter aus dessen Büro mit.
Weil der steuerpflichtige Arbeitslohn des Klägers sich gegenüber dem Vorjahr deutlich (um 26 838 DM) verringert hatte, forderte der Sachbearbeiter des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) den Kläger mit Schreiben vom 10. Mai 1994 auf, eine Bescheinigung darüber beizubringen, daß er keine Lohnersatzleistungen bezogen habe, außerdem, daß die Übernachtungskosten nicht im Zusammenhang mit den steuerfreien Einkünften stünden. Der Kläger ließ dem FA daraufhin unmittelbar durch den Arbeitgeber eine Erklärung übermitteln, daß das Arbeitsverhältnis das ganze Jahr 1992 über bestanden habe. Das Aufforderungsschreiben vom 10. Mai 1994 wurde dem FA durch den prozeßbevollmächtigten Steuerberater urschriftlich zurückgesandt, versehen mit roten Markierungen der Worte "keine Lohnersatzleistungen" sowie "nicht in Zusammenhang" und dem handschriftlichen Vermerk "stfr. Auslandsbezüge".
Abgesehen von den Übernachtungskosten wurde die Veranlagung sodann wie erklärt durchgeführt und die Einkommensteuer unter Anwendung eines Progressionsvorbehalts wegen des erklärten steuerfreien Arbeitslohns von 4 802 DM festgesetzt. Auf der entsprechenden Verfügung vom 9. Juni 1994 notierte der Sachbearbeiter: "WV Belege versenden". Nähere Angaben über diese Belege fehlen.
Nach Bestandskraft des Steuerbescheides erhielt das FA Mitteilung über die Feststellungen einer Lohnsteueraußenprüfung, die das zuständige FA beim Arbeitgeber des Klägers durchgeführt hatte. Danach war der Kläger im Streitjahr nur an 35 Tagen von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte gefahren und hatte für eine Tätigkeit in Italien vom 20. bis 26. Februar Arbeitslohn von 1 508 DM sowie für eine Tätigkeit in China vom 16. Juni bis 16. Dezember (= 184 Tage) Arbeitslohn von 44 817 DM bezogen. Dabei entfielen der 16. und 17. Juni sowie der 14. bis 16. Dezember 1992 auf die Hin- und Rückreise. - Für diese Löhne war keine Lohnsteuer einbehalten worden.
Das FA änderte den Einkommensteuerbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), indem es die ihm mitgeteilten Löhne als steuerpflichtige Einnahme einbezog und statt der Werbungskosten nur die Arbeitnehmerpauschale von 2 000 DM ansetzte.
Dagegen wandte sich der Kläger unter Beifügung eines 93 Seiten starken Hefters mit "Monteur-Abrechnungen", aus denen sich seine Einsatzzeiten in China ergeben. Er führte aus, dieser Hefter habe seinerzeit dem FA vorgelegen; er sei von seinem Steuerberater bzw. dessen Mitarbeiter zusammen mit der Steuererklärung eingereicht worden. Das FA habe ihm den Hefter nach Durchführung der Steuerveranlagung zusammen mit anderen Belegen zurückgereicht. Außerdem habe der Sachbearbeiter des FA mit dem Mitarbeiter die einzelnen Punkte der Veranlagung telefonisch abgeklärt. Dabei müsse auch der steuerfreie Auslandsbezug zur Sprache gekommen sein.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vernahm den Prozeßbevollmächtigten, dessen Mitarbeiter sowie den Sachbearbeiter im FA als Zeugen und entschied: Zwar sei die Zeugenaussage insbesondere des Mitarbeiters, er habe den besagten Hefter der Steuererklärung beigefügt, aus verschiedenen Gründen nicht ganz schlüssig. Gleiches gelte aber auch für die Aussage des Sachbearbeiters. Letztlich bleibe die Sache unaufgeklärt, was sich zu Lasten des FA auswirke, dem die Beweislast für das Vorliegen neuer Tatsachen obliege. Auf den Hefter mit den "Monteur-Abrechnungen" komme es in entscheidungserheblicher Weise an. Unterstellt, dieser hätte dem Sachbearbeiter tatsächlich vorgelegen, hätte er dem von Amts wegen nachgehen müssen. Daß der Kläger seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen sei, trete demgegenüber zurück. Sein Verschulden sei als gering einzuschätzen, weil er sich grundsätzlich auf die Richtigkeit der Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte habe verlassen dürfen.
Seine Revision begründet das FA mit Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide u.a. dann aufzuheben oder zu ändern, wenn "neue Tatsachen" vorliegen, die zu einer höheren Steuer führen. Eine Tatsache ist "neu", wenn sie das FA bei Erlaß des ursprünglichen oder des im Anschluß daran ergangenen geänderten Steuerbescheides noch nicht kannte. Eine Tatsache gilt allerdings dann nicht als "neu", wenn sie dem FA bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht (vgl. § 88 AO 1977) nicht verborgen geblieben wäre, sofern der Steuerpflichtige seinerseits seiner Mitwirkungspflicht voll genügt hat (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241). Dabei kommt es für die Frage der Neuheit einer Tatsache nach der ständigen Rechtsprechung des BFH auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalles organisatorisch berufenen Dienststelle an; Kenntnisse eines Außenprüfers sind im Rahmen von § 173 AO 1977 unbeachtlich (vgl. z.B. Urteile vom 1. Dezember 1967 VI 379/65, BFHE 90, 485, 492, BStBl II 1968, 145, 148; vom 23. März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548, und vom 9. November 1984 VI R 157/83, BFHE 142, 402, BStBl II 1985, 191).
2. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das FG unrichtig entschieden.
a) Nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt hat der Kläger (bzw. sein Berater), wie von diesem auch einräumt wird, nicht nur hinsichtlich der Kosten für Fahrten zur Arbeitsstätte, sondern auch hinsichtlich der steuerfreien Einnahmen in seiner Steuererklärung unvollständige Angaben gemacht. Diese --isoliert-- zugrunde gelegt, beruhten die Erkenntnisse, die das FA durch die Mitteilung des Lohnsteueraußenprüfers erlangte, auf neuen Tatsachen, und zwar sowohl, was die Höhe der Einnahmen betrifft, als auch im Hinblick auf die konkreten Tätigkeiten des Klägers, insbesondere deren Dauer. Denn der Veranlagungsbeamte konnte durchaus darauf vertrauen, daß die erklärten Angaben als solche zutreffend und erschöpfend waren. Der vom Kläger als steuerfrei erklärte Arbeitslohn von 4 802 DM erwies sich zwar angesichts einer beinahe halbjährigen Anwesenheit in China als ausgesprochen niedrig. Andererseits deckte sich diese Angabe in gewisser Weise mit den erklärten Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstätte an 165 Tagen. Vor allem aber hatte der Sachbearbeiter angesichts der deutlichen Lohndifferenz zum Vorjahr beim Kläger entsprechend nachgefragt und um eine Bescheinigung darüber gebeten, daß dieser im Streitjahr keine Lohnersatzleistungen erhalten habe. Der Kläger hat daraufhin auf seine "steuerfreien Auslandsbezüge" verwiesen, ohne diese weiter zu spezifizieren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt der Anfrage durch das FA hätte er aber seine unvollständigen Angaben in der erst kurz zuvor abgegebenen Steuererklärung bemerken und diese sodann (ggf. auf entsprechenden Hinweis des Steuerberaters) korrigieren müssen (vgl. auch § 153 AO 1977). Darauf, ob und ggf. in welchem Umfang dem Kläger und seinem steuerlichen Berater die unvollständigen Angaben zu den als steuerfrei angesehenen Bezügen als schuldhaft vorzuhalten sind, kommt es in diesem Zusammenhang entgegen dem FG nicht an. Ausschlaggebend ist allein der objektive Inhalt der Steuererklärungen.
Stellt man allein auf die Angaben in der Steuererklärung ab, bestand sonach zu weitergehenden, konkreten Nachfragen und Ermittlungen dazu, wie sich diese "steuerfreien Auslandsbezüge" im einzelnen zusammensetzten, in Ermangelung äußerer Anhaltspunkte kein Grund.
b) Anders könnte es sich indes verhalten, wenn sich dem FA infolge sonstiger, ihm im Zeitpunkt der Veranlagung bekannter Umstände weitere Ermittlungsmaßnahmen hätten aufdrängen müssen. Ein derartiger Umstand könnte in dem Hefter mit den "Monteur-Abrechnungen" zu sehen sein, aus dem sich Einzelheiten über die Dauer der tatsächlichen Einsatztätigkeit des Klägers in China ergeben. Unterstellt, dieser Hefter hätte dem Sachbearbeiter im FA bei Durchführung der Veranlagung tatsächlich vorgelegen, so hätte ihn dies unter Umständen veranlassen müssen, weiter nachzufassen und im Rahmen seiner Ermittlungspflicht den Sachverhalt aufzuklären.
Im einzelnen braucht dies jedoch nicht beantwortet zu werden. Denn nach den Feststellungen des FG läßt sich trotz umfangreicher Beweisaufnahme gerade nicht aufklären, ob dieser Hefter der Steuererklärung beigefügt und beim FA eingereicht worden ist. An diese tatrichterliche Würdigung ist der erkennende Senat gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Sie ist nicht durch Verfahrensrügen angegriffen worden und widerspricht auch nicht den Denkgesetzen. Folglich ist nach den Regeln der Beweislast zu entscheiden. Diese trifft den Kläger. Zwar ist es Sache des FA, die zuungunsten des Steuerpflichtigen wirkenden Änderungsvoraussetzungen nachzuweisen, jedoch nur dann, wenn der Steuerpflichtige --schuldhaft und vorwerfbar-- den zu ändernden Steuerbescheid nicht durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt oder --ohne Rücksicht auf Verschulden-- Tatsachen verschwiegen hat, die anzugeben im wesentlichen nur er in der Lage war (vgl. BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 III R 183/81, BFHE 146, 320, BStBl II 1986, 441; von Wedelstädt in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 173 AO 1977 Rz. 78). Dann geht es nicht um die Beweislast für die "neue Tatsache", sondern für die Verletzung der Ermittlungspflicht. Diese Beweislast trifft den Steuerpflichtigen.
So verhält es sich auch im Streitfall. Der Kläger hat in seiner Steuererklärung nachweislich unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht. Er beruft sich zwar auf die Vorlage ergänzender Unterlagen. Da sich diese Behauptung aber nicht beweisen läßt, bleibt der Kläger beweisfällig. Dieser und nicht das FA muß sich die aus der Beweislage ergebenden Konsequenzen anlasten lassen. Es bleibt sonach dabei, daß die anläßlich der Lohnsteueraußenprüfung aufgedeckten näheren Umstände zum Umfang, insbesondere zur Dauer der vom Kläger in China ausgeübten Tätigkeiten, für das FA "neu" i.S. von § 173 Abs. 1 AO 1977 waren.
3. Die Vorinstanz hat eine davon abweichende Rechtsauffassung vertreten. Ihr Urteil ist aufzuheben. Der Sache fehlt die Spruchreife. Zwar steht außer Streit, daß der für den Einsatz in Italien gezahlte Arbeitslohn steuerpflichtig ist, ebenso, daß der Kläger lediglich 35 Fahrten zwischen seiner Wohnung und seiner Arbeitsstätte als Werbungskosten berücksichtigen kann. Andererseits hat das FG bislang keine tatsächlichen Feststellungen zur Dauer der Tätigkeit in China getroffen. Je nachdem, ob diese Tätigkeit an mehr oder weniger als 183 Tagen ausgeübt worden ist (vgl. Art. 15 Abs. 2 Buchst. a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 10. Juni 1985), sind die dem Kläger dafür gezahlten Löhne steuerlich im Rahmen des Progressionsvorbehalts (§ 32b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) oder aber als Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) zu erfassen. Außerdem geht das FG offenbar davon aus, daß die vom FA nicht berücksichtigten Übernachtungskosten zumindest teilweise abzugsfähig sind. Dies könnte sich im Rahmen der Änderungsveranlagung unter Umständen gemäß § 177 AO 1977 auswirken.
Fundstellen
Haufe-Index 67389 |
BFH/NV 1999, 96 |
BStBl II 1998, 599 |
BFHE 186, 124 |
BFHE 1999, 124 |
BB 1998, 2046 |
BB 1998, 2046 (Leitsatz) |
DB 1998, 2099 |
DStR 1998, 1510 |
DStRE 1998, 854 |
DStRE 1998, 854 (Leitsatz) |
DStZ 1999, 108 |
HFR 1998, 970 |
StE 1998, 616 |