Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlen von Entscheidungsgründen
Leitsatz (NV)
1. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen ist nicht nur dann gegeben, wenn die Entscheidung überhaupt nicht mit Gründen versehen ist, sondern bereits dann, wenn das FG einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat und dem Beteiligten dadurch die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
2. Werden im erstinstanzlichen Verfahren zwei selbständige Verteidigungsmittel geltend gemacht, die jedes für sich geeignet gewesen wären, der Klage zum Erfolg zu verhelfen, so hat sich das FG mit dem gesamten Vorbringen auseinanderzusetzen und im Falle einer Klageabweisung eine davon abweichende Rechtsauffassung in den Entscheidungsgründen darzulegen.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klage des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) auf Aufhebung des Haftungsbescheides vom 22. Juli 1992 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Oktober 1992, mit dem der Kläger vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer einer GmbH wegen nicht abgeführter Lohnsteuer und wegen Säumniszuschlägen als Haftungsschuldner nach §§ 34, 71 und 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch genommen worden ist, hatte nur zum Teil Erfolg, im übrigen wurde sie als unbegründet abgewiesen. Die Revision wurde vom Finanzgericht (FG) nicht zugelassen.
Der Kläger hat gegen das Urteil des FG Revision und gleichzeitig Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt.
Mit der Revision rügt der Kläger als wesentlichen Verfahrensmangel, daß das erst instanzliche Urteil nicht mit Gründen ver sehen sei (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanz gerichtsordnung -- FGO --). Er trägt vor, das FG sei in seiner Urteilsbegründung nicht auf die schriftsätzlich vorgebrachten Einwendungen eingegangen und habe ohne nähere Begründung angenommen, daß der Haftungsbescheid noch angefochten und nicht bereits durch Aufhebung erledigt sei. Dagegen habe er -- der Kläger -- im erstinstanzlichen Verfahren mit mehreren Schriftsätzen unter Beweisangebot auf folgende Umstände hingewiesen: Das FA habe gegen ihn insgesamt zwei Haftungsbescheide erlassen und den ersten Haftungsbescheid vom 11. März 1992 auf seinen Einspruch nach § 172 AO 1977 aufgehoben (Einspruchsentscheidung vom 18. September 1992). Da der zweite Haftungsbescheid vom 22. Juli 1992 den ersten Haftungsbescheid -- wenn auch mit modifizierter Begründung -- lediglich ersetzt habe, sei davon auszugehen, daß auch der zweite Haftungsbescheid gemäß § 365 Abs. 3 AO 1977 Gegenstand des nunmehr erledigten Einspruchsverfahrens geworden sei. Aufgrund der dadurch erfolgten Aufhebung beider Haftungsbescheide sei seine weitere Inanspruchnahme nicht mehr gerechtfertigt.
Zur weiteren Begründung der Revision trägt der Kläger vor, daß er sich im erstinstanzlichen Verfahren auf die bereits erfolgreich durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen des FA gegenüber der Erstschuldnerin und die dadurch erfolgte Tilgung der Steuerschulden berufen habe. In seiner Urteils begründung sei das FG auch auf diesen Vortrag nicht eingegangen und habe insbesondere nicht dargelegt, warum von einem Erlöschen der Lohnsteueransprüche nicht ausgegangen werden könne. Da sich das FG in seiner Urteilsbegründung nicht mit den vorgebrachten Einwendungen auseinandergesetzt habe, sei ihm -- dem Kläger -- die Möglichkeit genommen, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Recht mäßigkeit zu überprüfen. Das Urteil leide daher an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel i. S. von § 119 Nr. 6 FGO.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die angefochtenen Haftungsbescheide und die Einspruchsentscheidung des FA vom 22. Oktober 1992 aufzu heben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zulässige Revision ist auch begründet. Das FG hat sein Urteil nicht ordnungsgemäß mit Gründen versehen (§ 119 Nr. 6 FGO). Die Revision führt daher zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung durch das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs findet abweichend von § 115 Abs. 1 FGO die Revision nur statt, wenn das FG oder auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat. Abgesehen davon ist eine Revision auch dann zulässig, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. von § 116 Abs. 1 FGO gerügt wird.
Zwar hat im Streitfall das FG die Revision nicht zugelassen, jedoch hat der Kläger substantiiert Gründe vorgetragen, die auf das Vorliegen eines die zulassungsfreie Revision eröffnenden Begründungsmangels i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO schließen lassen (zu den Anforderungen an eine schlüssige Rüge des teilweisen Fehlens von Urteilsgründen i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO vgl. BFH-Beschluß vom 22. Februar 1996 III R 133/95, BFH/NV 1996, 817).
Der vom Kläger mit der zulassungsfreien Revision gerügte wesentliche Verfahrensmangel liegt auch vor.
Gemäß § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO sind Urteile zu begründen. Die Wiedergabe der Entscheidungsgründe dient der Mitteilung der wesentlichen rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgebend waren. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen ist deshalb dann anzunehmen, wenn dem Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (BFH- Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417). Das ist insbesondere der Fall, wenn nicht erkennbar ist, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde liegt oder wenn nicht ersichtlich ist, auf welche rechtlichen Erwägungen sich die Entscheidung stützt. Nach der Rechtsprechung des BFH fehlen die Entscheidungsgründe nicht nur dann, wenn die Entscheidung überhaupt nicht mit Gründen versehen ist, sondern bereits dann, wenn das FG einen selbständigen prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 1994 VII R 81/93, BFH/NV 1995, 479, und Beschluß vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, m. w. N.). Unter selbständigen Ansprüchen und Verteidigungsmitteln sind nur die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestalteten Rechtsnorm bilden (BFH-Beschluß vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351).
2. Im Streitfall ist nach dem Vortrag der Revision davon auszugehen, daß sich der Kläger vor dem FG auf die Aufhebung des Haftungsbescheides und damit auf den Wegfall der formellen Grundlage des Haftungsanspruches sowie hilfsweise auf das Erlöschen des Haftungsanspruches durch erfolgreiche Pfändung gegenüber der GmbH als Erstschuldnerin berufen hat. Damit sind im erstinstanzlichen Verfahren zwei selbständige Verteidigungsmittel geltend gemacht worden, die jedes für sich geeignet gewesen wären, der Klage gegen den Haftungsbescheid zum Erfolg zu verhelfen. Bei dieser Sachlage durfte der Kläger erwarten, daß sich das Gericht mit dem entscheidungserheblichen Vorbringen auseinandersetzen und im Falle der Klageabweisung eine davon abweichende Rechtsauffassung in den Entscheidungsgründen darlegen würde. Indes läßt das Urteil nicht erkennen, daß sich das FG mit den vom Kläger in seinen Schriftsätzen aufgeworfenen Rechtsfragen befaßt hat. Auf die Rechtsproblematik einer etwaigen Erstreckung der Rechtswirkungen der Einspruchsentscheidung vom 18. September 1992 auf den Haftungsbescheid vom 22. Juli 1992 gemäß § 365 Abs. 3 AO 1977 geht das FG nicht ein, sondern legt seiner Entscheidung ausschließlich die Einspruchsentscheidung vom 22. Oktober 1992 zugrunde. Auch auf den Einwand des Klägers, die Steueransprüche gegen die Erstschuldnerin seien durch eine bereits erfolgte Befriedigung im Vollstreckungsverfahren erloschen, geht das FG nicht näher ein. Es führt lediglich im Zusammenhang mit der Überprüfung der Ermessensentscheidung des FA aus, dieses habe vor Erlaß des Haftungsbescheides mit unzureichendem Erfolg die Vollstreckung bei der GmbH versucht; damit bleiben aber etwaige Vollstreckungsversuche bis zum Erlaß der hier angefochtenen Einspruchsentscheidung unerörtert.
Das Urteil wird damit den von der Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen an eine Begründung i. S. von § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO jedenfalls hinsichtlich des Vorbringens zu § 365 Abs. 3 AO 1977 nicht gerecht. Zwar muß das FG nicht auf jedes Vorbringen des Klägers eingehen, jedoch erweist sich die Nichtberücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten entscheidungserheblichen Einwendungen im Streitfall als wesentlicher Verfahrensfehler. Ihre rechtliche Behandlung liegt auch nicht so klar auf der Hand, daß ein Eingehen darauf als entbehrlich hätte angesehen werden können (vgl. zu diesem Gesichtspunkt Senatsurteil in BFH/NV 1995, 479).
Eine Befassung mit den erhobenen Verteidigungsmitteln erscheint auch nicht deshalb als verzichtbar, weil das FG in seiner Urteilsbegründung ergänzend auf die in drei anderen Urteilen getroffenen Feststellungen und Erwägungen Bezug genommen hat; denn die zitierten Urteile betreffen nicht die angefochtenen Haftungsbescheide und die in diesem Zusammenhang aufgeworfene Rechtsfrage der Anwendbarkeit von § 365 Abs. 3 AO 1977, sondern mehrere gegen die Erstschuldnerin ergangene Lohnsteuer-Schätzungsbescheide.
Aufgrund des vorliegenden Begründungsmangels i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO und des § 119 Nr. 6 FGO kann die erstinstanzliche Entscheidung keinen Bestand haben. Das Urteil war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Im zweiten Rechtsgang wird das FG nunmehr unter Beachtung des § 365 Abs. 3 AO 1977 darüber zu befinden haben, ob der Einspruchsentscheidung vom 18. September 1992 die vom Kläger beigemessene Rechtswirkung zuerkannt werden kann und ob der Einspruchsentscheidung vom 22. Oktober 1992 demgegenüber noch eine eigenständige rechtliche Bedeutung zukommt. Darüber hinaus wird darüber zu befinden sein, ob der Vortrag des Klägers hinsichtlich der behaupteten Tilgung der gegenüber der Erstschuldnerin bestehenden Steueransprüche -- insbesondere in bezug auf die Individualisierung und genaue Bezeichnung der angeblich durch Pfändung realisierten Forderung -- als ausreichend erachtet werden kann, um die vom Kläger gewünschten Schlußfolgerungen ziehen zu können, und ob ggf. weiterer Aufklärungsbedarf besteht.
Fundstellen