Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung wegen Änderung der Postlaufzeit; keine Wiedereinsetzung bezüglich der Festsetzungsfrist
Leitsatz (NV)
1. Zur Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Klagefrist, wenn sich mit einem Fahrplanwechsel der Eisenbahn die Postlaufzeiten verlängert haben.
2. Die Festsetzungsfrist gehört nicht zu den Fristen, bei deren Versäumung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.
Normenkette
AO 1977 §§ 110, 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; FGO § 56 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde am 14. Dezember 1989 zum Nachlaßpfleger für die unbekannten Erben des X bestellt. Er fertigte die den Verstorbenen betreffenden Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1982 bis 1989 und reichte sie am 11. Dezember 1990 bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) ein. Da für die Einkommensteuer 1982 zum Jahresende 1989 die Festsetzungsfrist abgelaufen war, beantragte der Kläger insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO 1977). Das FA lehnte eine Veranlagung für das Jahr 1982 ab, weil nach Eintritt der Festsetzungsverjährung eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht komme. Die Einspruchsentscheidung wurde dem Kläger am 3. Mai 1991 zugestellt.
Die dagegen gerichtete Klage ging am 4. Juni 1991 bei dem Finanzgericht (FG) ein. Wegen der Versäumung der Klagefrist beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er trug -- unter Versicherung an Eides Statt -- vor, daß er die Klageschrift am Mittag des 2. Juni 1991 in den Briefkasten der Hauptpost in N eingeworfen habe. Die Sendung sei deshalb nicht am folgenden Tag beim FG eingegangen, weil sich wegen des zum 2. Juni 1991 geänderten Fahrplans der Bundesbahn die Postlaufzeiten verlängert hätten. Vor der Fahrplanänderung hätte ein vor der Leerung um 15.15 Uhr bei der Hauptpost eingeworfenes Schriftstück noch am folgenden Tag den Empfänger erreicht.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil sie verspätet erhoben und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren sei. Den Kläger treffe ein Verschulden an der Fristversäumnis. Er hätte sich darüber informieren müssen, ob ein am Sonntagnachmittag in N eingeworfenes Schreiben am folgenden Tag beim FG in X eingehen würde.
Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Er trägt vor, hinsichtlich der Klageerhebung stehe ihm ein Wiedereinsetzungsgrund zur Seite, weil er aufgrund der im Aushang befindlichen gewöhnlichen Postlaufzeiten davon habe ausgehen dürfen, daß die Klageschrift noch am 3. Juni 1991 beim FG eintreffen würde. Bei Ablauf der Festsetzungsfrist sei eine Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO 1977 möglich (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, § 171 AO 1977 Tz. 5). Nach dieser Vorschrift müsse die Fristversäumnis ohne Verschulden erfolgt sein. Das treffe hier zu.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist und der Frist zur Abgabe der Einkommensteuererklärung 1982 das FA zu verurteilen, die Einkommensteuerveranlagung für den verstorbenen X durchzuführen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Zwar hat das FG die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die Klage konnte jedoch aus anderen Gründen keinen Erfolg haben.
1. Entgegen der Auffassung des FG ist die Klage nicht wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig. Die Klageschrift ist zwar einen Tag nach Fristablauf beim FG eingegangen, doch hätte das FG dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen (§ 56 Abs. 1 FGO).
Nach dem unbestrittenen und durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachten Vortrag des Klägers hatte dieser den Briefumschlag mit der Klageschrift am Sonntag, dem 2. Juni 1991, jedenfalls vor der Leerung um 15.15 Uhr in den Briefkasten der Hauptpost in N eingeworfen. Wie sich aus der von dem Kläger eingeholten und in das Klageverfahren eingeführten Auskunft der Post ergibt, hatten sich aufgrund des zum 2. Juni 1991 geänderten Fahrplans der Bundesbahn die Postlaufzeiten nach X verlängert; vor der Fahrplanänderung wäre eine entsprechende Sendung noch am folgenden Tag dem Empfänger zugegangen. Nach ständiger Rechtsprechung hat jedoch ein Verfahrensbeteiligter, der eine Rechtsbehelfsfrist -- zulässigerweise -- bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzt, Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Post nicht zu vertreten (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 21. Dezember 1990 VI R 10/86, BFHE 163, 400, BStBl II 1991, 437, m. w. N.). Er hat alles seinerseits Erforderliche getan, wenn er das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post gegeben hat, daß es bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht. Dies war hier der Fall.
Im Hinblick auf diese Grundsätze ist dem Kläger deswegen, weil er sich nicht erkundigt hat, ob ein am Sonntagmittag in N eingeworfener Brief den Empfänger in Z noch am folgenden Tag erreichen werde, kein Verschulden an der Fristversäumnis anzulasten. Eine derartige Informationspflicht kann nur in Zweifelsfällen angenommen werden. Für den Kläger bestand jedoch aufgrund der bisherigen Postlaufzeiten kein Anlaß, den rechtzeitigen Zugang der Klageschrift am folgenden Tag in Zweifel zu ziehen. In diesem Zusammenhang ist es ohne Belang, daß der Kläger im Verfahren vor dem FG noch nicht vorgetragen hat, bei der Aufgabe der Klageschrift zur Post habe er noch die bisherigen Postlaufzeiten in einem Aushang am Briefkasten wahrgenommen.
2. Die Klageabweisung erweist sich im Ergebnis gleichwohl als zutreffend. Das FA hat es zu Recht abgelehnt, die Veranlagung 1982 durchzuführen, weil die Festsetzungsfrist hierfür bereits abgelaufen war (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) und die von dem Kläger beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kam.
Im Besteuerungsverfahren ist gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Unter § 110 AO 1977 fallen nur -- verfahrensrechtliche und materielle -- Fristen, die "einzuhalten" sind, d. h. solche, die dem Steuerpflichtigen ein Verhalten innerhalb eines bestimmten Zeitraums gegenüber der Finanzverwaltung gebieten (Handlungs- oder Erklärungsfristen). Von der Vorschrift nicht erfaßt werden dagegen die von den Finanzbehörden als Verfahrensträgern im Verwaltungsverfahren zu beachtenden gesetzlichen Fristen. Diese können nicht von dem Steuerpflichtigen eingehalten und daher auch nicht ohne Verschulden versäumt werden. Die Festsetzungsfrist ist somit keine wiedereinsetzungsfähige Frist (vgl. Kuczyn ski in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 110 AO 1977 Rz. 7; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 110 AO 1977 Rz. 6 a; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, 17. Aufl., § 110 Anm. 2; im Ergebnis ebenso Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 AO 1977 Tz. 2; a. A. Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO 1977 Tz. 5; Schwarz, Abgabenordnung, § 110 Anm. 2).
3. Obwohl das FG die Klage mit einem Prozeßurteil als unzulässig abgewiesen und deshalb nicht zur Frage einer Veranlagung trotz Ablaufs der Festsetzungsfrist aufgrund Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Stellung genommen hat, ist die Sache nicht an das FG zurückzuverweisen. Vielmehr kann der Senat gemäß § 126 Abs. 4 FGO die Vorentscheidung aus sachlichen Gründen (wegen Unbegründetheit) bestätigen, da der von der Vorinstanz angenommene prozessuale Mangel nicht besteht und die Klage aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt Erfolg haben kann (BFH-Urteil vom 28. November 1972 VIII R 142/70, BFHE 108, 275, BStBl II 1973, 497; Hübsch mann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 126 FGO Rz. 11; vgl. auch Bundesgerichtshof, Urteil vom 14. März 1978 VI ZR 68/76, Wertpapier-Mitteilungen 1978, 935; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Aufl., § 144 Rz. 4).
Fundstellen