Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtskraftwirkung, Streitgegenstand, Entscheidungsgegenstand
Leitsatz (NV)
Versäumt es das FA, Erkenntnisse und Beweismittel, derer es sich bei gehöriger Ermittlung des Sachverhalts hätte bedienen können, dem FG zu unterbreiten, so darf nach rechtskräftiger Aufhebung des Haftungsbescheids kein neuer Bescheid über die gleiche Haftungsschuld erlassen werden.
Normenkette
FGO § 110 Abs. 1, § 100 Abs. 1 S. 1 Hs. 2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) als ehemaligen Geschäftsführer der GmbH durch Haftungsbescheid wegen rückständiger Lohn- und Kirchensteuer sowie steuerlicher Nebenleistungen der GmbH aus den Jahren . . . als Haftenden in Anspruch.
Die Haftungssumme von ursprünglich . . . DM setzte das FA im Einspruchsverfahren auf . . . DM und in einem nachfolgenden Änderungsbescheid auf . . . DM herab.
Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid auf. Zur Begründung führte es aus, es stehe nicht fest, ob die Lohnsteuerbeträge, die das FA vom Kläger im Wege der Haftung fordere, tatsächlich von der gelöschten GmbH geschuldet würden. Die Haftung setze eine Steuerschuld voraus. Ob und in welcher Höhe im Streitfall eine Steuerschuld der GmbH (gemeint ist die Haftungsschuld der GmbH als Arbeitgeberin nach § 42 d des Einkommensteuergesetzes - EStG -) bestehe, lasse sich nicht feststellen. Der Kläger bestreite die vom FA geltend gemachte Schuld der GmbH zumindest der Höhe nach. Das FA räume in der Einspruchsentscheidung selbst ein, daß es ihm nicht möglich sei, festzustellen, wie sich die Rückstände im einzelnen entwickelt hätten. Damit sei zweifelhaft, ob die vom FA geltend gemachte Lohnsteuerschuld auch in der geforderten Höhe bestehe. An diesem Mangel litten sowohl der Haftungsbescheid als auch der zwischenzeitlich ergangene Änderungsbescheid.
Dieses Urteil wurde rechtskräftig.
Am . . . erließ das FA erneut einen Haftungsbescheid über . . . DM, der sich ebenfalls auf Rückstände der GmbH an Lohn- und Kirchensteuern . . . sowie dazugehöriger Verspätungszuschläge bezog. Nach erfolglosem Vorverfahren hob das FG auch diesen Haftungsbescheid auf und begründete seine Entscheidung wie folgt:
Der zweite Haftungsbescheid habe nicht ergehen dürfen, weil ihm die Rechtskraft des Urteils vom . . . entgegengestanden habe. Die Frage, ob es rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen sei, den Kläger zu der hier strittigen Haftung heranzuziehen, sei bereits Streitgegenstand des Vorprozesses gewesen. Darüber sei entschieden, indem eine Voraussetzung für den Haftungsanspruch, nämlich das Bestehen einer Haftungsschuld der GmbH, verneint worden sei. Damit sei der erneute Haftungsbescheid unvereinbar, weil er im Widerspruch dazu die Voraussetzung, daß Abgabenschulden der GmbH beständen, bejahe.
Die Vorentscheidung sei insoweit in Rechtskraft erwachsen, als auf der Grundlage des ihr zugrundeliegenden Sachverhalts nicht festgestanden habe, ob noch Haftungsschulden der GmbH bestanden hätten und deshalb der Haftungsanspruch gegenüber dem Kläger zu verneinen gewesen sei. Zu dem unterbreiteten Sachverhalt, der Entscheidungsgegenstand geworden sei, hätten nicht nur die unstreitigen (feststehenden) Tatsachen, sondern auch Tatsachen gehört, die in Frage gestanden hätten, wie insbesondere die Tilgung der Rückstände durch die GmbH.
Die Auffassung des FA, es sei durch die Vorentscheidung nicht gebunden, weil der frühere Haftungsbescheid allein aus formellen Gründen (fehlende Bestimmtheit und Begründung) aufgehoben worden sei, treffe nicht zu. Die Hauptbegründung der Vorentscheidung sei nicht das formelle Fehlen einer Begründung des Haftungsbescheids, sondern die aus dem Inhalt der Begründung gezogene materiell-rechtliche Folgerung gewesen, daß das Bestehen einer Schuld der GmbH nicht dargetan worden sei.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA, die Vorinstanz habe den Umfang der Rechtskraftwirkung des Urteils vom . . . gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verkannt.
Die Klageabweisung in diesem Urteil habe auf einem Begründungsmangel des ihm zugrundeliegenden Haftungsbescheids beruht, denn das Vorliegen und die Höhe der Haftungsschuld der GmbH seien nach der Begründung des Haftungsbescheids nicht nachvollziehbar gewesen. Solche Begründungsmängel seien Formmängel und ständen im Widerspruch zu materiellen Mängeln, bei denen zu überprüfen sei, ob der zugrundeliegende Lebenssachverhalt eine Haftungsschuld des Klägers begründet habe. Beschränke sich ein Urteil auf die Feststellung von Formfehlern, so könne sich dessen Rechtskraft nur auf solche Formfehler, nicht aber auf materielle Fragen beziehen, denn nach § 110 Abs. 1 FGO seien die Parteien nur insoweit an rechtskräftige Urteile gebunden, als über den Streitgegenstand entschieden worden sei. Mit der Vorentscheidung sei lediglich rechtskräftig festgestellt worden, daß der ursprüngliche Bescheid fehlerhaft gewesen sei, nicht aber, daß keine Haftungsschuld der GmbH bestanden habe. Die Rechtskraft der Entscheidung vom . . . habe daher das FA nicht an dem Erlaß eines inhaltsgleichen Verwaltungsakts unter Vermeidung des vom Gericht festgestellten Formfehlers gehindert.
Selbst wenn in der mangelhaften Begründung des ursprünglichen Haftungsbescheids ein materieller Mangel gesehen werde, so sei das Nachholen einer fehlerfreien Begründung eine neue Tatsache, welche von der Bindungswirkung des Vorurteils nicht erfaßt werde.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das FG hat die Klage als unbegründet angesehen, weil der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids die Rechtskraft des Urteils vom . . . entgegengestanden habe. In jenem Vorprozeß sei über die Haftungsschuld der GmbH als Voraussetzung für eine Haftung des Klägers in der Weise entschieden worden, daß das Bestehen einer solchen Schuld verneint worden sei. Dieser Auffassung schließt sich auch der erkennende Senat an.
Die Rechtskraft des Urteils vom . . . stand dem Erlaß eines inhaltsgleichen Haftungsbescheids durch das FA entgegen (§§ 100 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2, 110 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der angefochtene Haftungsbescheid vom . . . war somit rechtswidrig. Das FG hat ihn zu Recht aufgehoben.
1. Nach § 110 Abs. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten so weit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dem Erlaß eines späteren Verwaltungsakts steht die Rechtskraftwirkung eines früheren Urteils deshalb nur dann entgegen, wenn dieses denselben Streitgegenstand betrifft. Der allgemeine Streitgegenstandsbegriff erfährt im Rahmen des § 110 Abs. 1 FGO eine Einschränkung dadurch, daß die materielle Rechtskraftwirkung auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt ist, über den jeweils entschieden worden ist (Gräber /von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl. 1987, § 110 Rdnr. 12; Tipke /Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl. 1988, § 110 FGO Tz. 7 a. E.), weshalb für § 110 Abs. 1 FGO zwischen Streitgegenstand und Entscheidungsgegenstand zu differenzieren ist. Es kommt demnach für die Bindungswirkung auf den vom FG seiner Entscheidung tatsächlich zugrundgelegten Sachverhalt und auf die hierzu angestellten rechtlichen Erwägungen an (Tipke / Kruse, a.a.O., § 110 FGO Tz. 8; Gräber / von Groll, a.a.O., § 110 Anm. 15).
Entscheidungsgegenstand des mit dem Urteil vom . . . abgeschlossenen Verfahrens war der Haftungsbescheid des FA vom . . . in Gestalt des Änderungsbescheids vom . . ., mit dem der Kläger als Haftender für rückständige Abgabenschulden der GmbH aus den Jahren . . . in Höhe von zuletzt . . . DM in Anspruch genommen wurde. Mit diesem Urteil ist - entgegen der Auffassung des FA - nicht lediglich die Frage entschieden worden, ob der angefochtene Haftungsbescheid in formeller Hinsicht den gesetzlichen Anforderungen entsprach. Das Urteil des FG ist vielmehr dahin zu verstehen, daß es im Wege einer Beweislastentscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer materiellen Haftungsvoraussetzung, nämlich hier des Bestehens einer Haftungsschuld der GmbH, entschieden hat.
Zu den Voraussetzungen des Haftungstatbestands nach § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) gehört u. a. das Bestehen einer Steuerschuld oder - wie vorliegend - einer Haftungsschuld des Primärverpflichteten. Nach den Ausführungen im Urteil vom . . . ist das FG davon ausgegangen, daß das FA das Bestehen einer Haftungsschuld der GmbH nicht nachgewiesen habe und die Nichterweislichkeit dieser Haftungsvoraussetzung zu Lasten des FA gehe mit der Folge, daß der Haftungsbescheid aufzuheben sei. Damit hat das FG letztlich eine materiell-rechtliche Entscheidung über das Bestehen der Haftungsschuld der GmbH getroffen und nicht nur über die formelle Richtigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids befunden. Aufgrund dieser Entscheidung durfte das FA keinen, dieselbe Haftungsschuld der GmbH und denselben Haftungszeitraum betreffenden neuen Haftungsbescheid erlassen.
Wird die Höhe dieser dem Haftungsanspruch zugrundeliegenden Steuer- oder Haftungsschuld vom Haftungsschuldner bestritten, so trägt das FA die Feststellungslast (objektive Beweislast), denn für den Regelfall gilt im Steuerprozeß der Grundsatz, daß die Finanzbehörde die Feststellungslast für die Tatsachen trägt, die vorliegen müssen, um einen Steuer- oder Haftungsanspruch geltend machen zu können; der in Anspruch genommene Steuer- oder Haftungsschuldner dagegen trägt die Feststellungslast für Tatsachen, die Steuerbefreiungen oder -ermäßigungen begründen oder einen Steuer- oder Haftungsanspruch aufheben oder einschränken (vgl. insbesondere Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, 165, BStBl II 1971, 220; Senats-Urteile vom 7. Juli 1983 VII R 43/80, BFHE 138, 527, BStBl II 1983, 760, und vom 15. Juli 1986 VII R 145/85, BFHE 147, 208, BStBl II 1986, 857). Diese Beweislastregelung liegt offensichtlich dem rechtskräftig gewordenen Urteil des FG zugrunde.
2. Die Rechtsauffassung des FA zur Bindungswirkung der ersten FG-Entscheidung läßt sich auch nicht auf § 100 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO stützen. Nach dieser Vorschrift ist die Finanzbehörde an die tatsächliche Beurteilung durch das FG zwar nur so weit gebunden, als nicht neu bekanntgewordene Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen; doch gilt diese Regelung nicht für solche Tatsachen oder Beweismittel, die den Entscheidungsgegenstand eines rechtskräftigen Urteils betreffen. Die vom FA im Streitfall nachträglich ermittelten Tatsachen über die Höhe der Haftungsschuld der GmbH sind aber gerade Gegenstand der FG-Entscheidung vom . . . gewesen.
Darüber hinaus können entscheidungserhebliche Tatsachen, die zwischen den Beteiligten streitig waren und die vom FG deshalb nicht berücksichtigt wurden, weil einer der Beteiligten - hier das FA - seiner prozessualen Pflicht, sich über die tatsächlichen Umstände (Höhe der rückständigen Lohnsteuerbeträge) vollständig und der Wahrheit gemäß zu erklären (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), nicht nachgekommen ist, die sachliche Bindung an das rechtskräftige Urteil nicht beseitigen (BFH-Urteil vom 7. April 1976 I R 24/75, BFHE 118, 542, BStBl II 1976, 501; Tipke / Kruse, a.a.O., § 110 FGO Tz. 15 a. E.). Ebenso wie materiell überprüfte Verwaltungsakte nach Bestandskraft nicht deshalb berichtigt oder neu erlassen werden können, weil bereits bekannte Tatsachen nachgeschoben werden (vgl. BFH-Urteile vom 21. Oktober 1960 III 2/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961, 64, und vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649) ist es ausgeschlossen, auf diese Art und Weise die Bindungswirkung von rechtskräftigen Urteilen zu unterlaufen. Die materielle Rechtskraft wäre ansonsten im Ergebnis zur Disposition der Beteiligten gestellt. Sie hätten es in der Hand, mit den gleichen Behauptungen erneute gerichtliche Entscheidungen über denselben Streitgegenstand zu erzwingen. Daß dies nicht rechtens sein kann, ergibt sich zudem aus der Regelung über die Wiederaufnahme des Verfahrens in § 134 FGO i. V. m. §§ 580 ff. der Zivilprozeßordnung (ZPO). Danach ist eine Durchbrechung der Rechtskraft nur in den vom Gesetz genannten Ausnahmefällen in einem besonderen Verfahren möglich. Das setzt u. a. voraus, daß der Beteiligte ohne sein Verschulden außerstande war, den Restitutionsgrund - ein solcher ist hier im übrigen nicht erkennbar - in dem früheren Verfahren geltend zu machen (§ 582 ZPO). Die Höhe der tatsächlichen Lohnsteuerrückstände der GmbH waren dem FA aber bereits im ersten finanzgerichtlichen Verfahren bekannt. Hätte das FA, wie es nach dem rechtskräftigen Abschluß des ersten Verfahrens geschah, bereits in einem früheren Stadium die Entwicklung der Lohnsteuerrückstände nachvollzogen, so wäre es in der Lage gewesen, bereits im ersten Prozeß den Haftungsanspruch gegenüber dem Kläger ausreichend zu begründen.
Dieses Ermittlungsversäumnis hat zur Entscheidung des FG vom . . . geführt mit der Folge, daß erst im Nachhinein gewonnene Erkenntnisse und Beweismittel, derer sich das FA jedoch schon im ersten Verfahren hätte bedienen können, nun nicht mehr zu einer Haftungsinanspruchnahme des Klägers führen können.
Eine andere Beurteilung wäre nur dann möglich, wenn das FG in seiner Entscheidung vom . . . Raum für das nachträgliche Vorbringen von Tatsachen oder Beweismittel gelassen hätte, wenn es den Haftungsbescheid z. B. wegen fehlerhafter Ermessenserwägungen aufgehoben hätte. In einem solchen Fall wäre das FA nicht gehindert gewesen, zur Stützung seines Haftungsanspruchs neue Tatsachen anzuführen.
Fundstellen
Haufe-Index 416776 |
BFH/NV 1990, 650 |