Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmißbrauch bei der Berlinförderung
Leitsatz (NV)
1. Bei einer GmbH befindet sich der Mittelpunkt der Geschäftsleitung regelmäßig an dem Ort, an dem die zur Vertretung befugte Person die ihr obliegende Tätigkeit entfaltet. Dies wird im allgemeinen der Ort sein, wo sich die Büroräume dieser Person befinden.
2. Wird zwischen einem in Berlin (West) ansässigen Unternehmen und ausländischen Kunden als Exporteur eine GmbH mit Sitz in Westdeutschland eingeschaltet, so kann ein Rechtsmißbrauch vorliegen, wenn keine sachgerechten erwerbswirtschaftlichen oder andere beachtliche Gründe vorliegen, die die Zwischenschaltung der GmbH rechtfertigen.
Normenkette
BerlinFG §§ 1, 5 Abs. 2; StAnpG §§ 6, 15 Abs. 1
Tatbestand
Umstritten ist, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) berechtigt ist, Umsatzsteuerkürzungen gemäß § 1 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG) vorzunehmen.
Der Kläger betreibt in Berlin (West), wo er seinen Wohnsitz hat, den Groß- und Einzelhandel mit X-Waren. Er ist Ex- und Importeur. In den Streitjahren 1971 bis 1973 war der Geschäftsführer der im Jahr 1964 zusammen mit dem Exportkaufmann A gegründeten Z-Handelsgesellschaft mbH (GmbH) mit Sitz in S, deren Geschäftsanteile ihm, seiner Ehefrau und seinem Sohn gehören. Die GmbH bezog etwa 50 v. H. ihrer Waren von dem Berliner Einzelunternehmen des Klägers, etwa 45 v. H. von der mit ihr gesellschaftlich verbundenen Y-GmbH & Co. KG, Berlin, und etwa 5 v. H. von westdeutschen Lieferanten. Etwa 95 v. H. dieser Wareneinkäufe wurden exportiert.
Im Anschluß an eine Betriebsprüfung vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Ansicht, bei der GmbH handele es sich nicht um einen westdeutschen Unternehmer i. S. des § 5 Abs. 2 BerlinFG, weil davon auszugehen sei, daß alle für die GmbH bedeutsamen Entscheidungen in Berlin getroffen worden seien. Die GmbH sei auch nicht Betriebsstätte des Berliner Unternehmens. Das FA versagte daher bei den Umsatzsteuerveranlagungen 1971 bis 1973 die vom Kläger für die Lieferungen an die GmbH geltend gemachten Umsatzsteuerkürzungen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung der §§ 1, 5 BerlinFG und des § 6 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG).
Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat den Kürzungsanspruch des Klägers zu Recht bejaht.
1. Die GmbH ist westdeutscher Unternehmer i. S. des § 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG, weil sie ihre Geschäftsleitung im Bundesgebiet hat.
a) Geschäftsleitung ist der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung (§ 15 Abs. 1 StAnpG). Diese befindet sich dort, wo der für die Geschäftsführung maßgebliche Wille gebildet wird. Entscheidend ist, wo nach den tatsächlichen Verhältnissen dauernd die für die Geschäftsführung nötigen Maßnahmen von einiger Wichtigkeit angeordnet werden (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 23. Juni 1938 III 40/38, RStBl 1938, 949; Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., Anm. 3 zu § 10 AO 1977; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., Rndr. 2 zu § 10 AO 1977). Wesentliche Beurteilungsmerkmale sind dabei Art und Umfang, Struktur und Eigenart des Unternehmes (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. Oktober 1966 II 143/63, BFHE 87, 94, BStBl III 1967, 18). Maßgeblich ist jeweils der Ort, dem nach dem Gesamtbild der Verhältnisse in organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht die größte Bedeutung zukommt (vgl. Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Rdnr. 12 zu § 10 AO 1977). Bei einer GmbH befindet sich der Mittelpunkt der Geschäftsleitung regelmäßig an dem Ort, an dem die zur Vertretung befugte Person die ihr obliegende Tätigkeit entfaltet. Dies wird im allgemeinen der Ort sein, wo sich die Büroräume dieser Person befinden.
b) Dazu hat das FG in tatsächlicher Hinsicht folgendes festgestellt: Die GmbH hatte während der Streitjahre in S eigene Geschäftsräume mit Fernschreiber und Telefon. Ein Teil der Räume war als Wohnraum ausgestaltet. Dieser diente dem Kläger, der sich durchschnittlich ein bis zwei Tage je Woche in S aufhielt und dort polizeilich gemeldet war, bei seinen Aufenthalten als Wohnung. Bei den wenigen Geschäften, die die GmbH tätigte, reichte der wöchentliche Aufenthalt von ein bis zwei Tagen aus, um Korrespondenz, Bankgeschäfte und Formalitäten abzuwickeln. Von S aus führte der Kläger häufig Geschäftsreisen ins In- und Ausland durch. Die GmbH beschäftigte in S eine Halbtagskraft, die Vertretungsvollmacht gegenüber Behörden, Kunden usw. hatte und ein monatliches Gehalt von . . . DM bezog. Nach den weiteren Feststellungen des FG wurde die Einzelfirma in Berlin vorwiegend von der Ehefrau des Klägers, dessen Sohn sowie einem Handlungsbevollmächtigten geleitet. Der Schwerpunkt der Tätigkeit des Klägers lag in den Streitjahren in der Geschäftsführung der GmbH sowie der Kundenbetreuung. Mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen sind diese Feststellungen für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
c) Das FG hat aus dem gesamten Streitstoff die Überzeugung gewonnen (vgl. § 96 FGO), daß die geschäftliche Oberleitung des Klägers in S lag. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Entscheidend ist, daß die Schlußfolgerung des FG möglich ist. Darauf, ob auch eine andere Schlußfolgerung möglich gewesen wäre, kommt es nicht an. Die Vorentscheidung läßt keinen Verstoß gegen die Denkgesetze oder gegen allgemeine Erfahrungssätze erkennen.
Die Schlußfolgerung des FG ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse der GmbH möglich, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, daß die GmbH in S nicht nur ihren statutarischen Sitz hatte, sondern hier auch Büroräume unterhielt, eine Büroangestellte beschäftigte und der Kläger hier Tätigkeiten ausführte, die üblicherweise einem GmbH-Geschäftsführer obliegen. Diese objektiv feststellbaren Umstände lassen die Annahme nicht zu, es sei unmöglich, daß sich die Geschäftsleitung der GmbH deshalb nicht in S habe befinden können, weil der Kläger gleichzeitig Inhaber eines Einzelhandelsunternehmens in Berlin war. Der Schlußfolgerung des FG steht ferner nicht die Kurzfristigkeit der jeweiligen Aufenthalte in S entgegen; denn nach den Feststellungen des FG genügte bei dem geringen Umfang der Geschäfte der GmbH ein so kurzer Aufenthalt. Entgegen der Auffassung des FA ist es nicht entscheidungserheblich, daß das FG nicht ausdrücklich festgestellt hat, ob der Kläger die Verkaufs- und Kontaktgespräche auch in S geführt hatte. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre die Vorentscheidung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Entscheidend ist, daß solche Gespräche jedenfalls nicht in Berlin stattgefunden haben, so daß das Gericht nicht zwischen einer solchen Geschäftstätigkeit in Berlin und den Verhältnissen in S abzuwägen hatte. Daß der Kläger den Entschluß, die genannten Gespräche zu führen, in Berlin gefaßt habe, hat das FA selbst nicht behauptet. Es sieht es nur als ,,fraglich" an, ob dies in S geschehen sei. Bei der gegebenen Sachlage kommt es nicht mehr entscheidend darauf an, daß der Kläger die Einkaufsgespräche mit der Firma T in S nicht unmittelbar für die GmbH, sondern für die Einzelfirma geführt hat. Der Senat kann daher unerörtert lassen, ob die Ansicht des FG zutrifft, das Ergebnis der Gespräche sei jedenfalls mittelbar dem Büro in S zuzurechnen. Das vom FA behauptete unmittelbare Weiterleiten von Kundenaufträgen durch die GmbH an die Einzelfirma schließt weder nach allgemeinen Erfahrungssätzen noch denkgesetzlich die Annahme der Geschäftsleitung in S aus.
2. Das FG hat ferner zu Recht das Vorliegen eines Mißbrauchs von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts i. S. des § 6 StAnpG verneint.
a) Ein solcher Rechtsmißbrauch liegt vor, wenn eine Gestaltung gewählt wird, die, gemessen an dem erstrebten Ziel, unangemessen, also ungewöhnlich ist (BFH-Beschluß vom 29. November 1982 GrS 1/81, BFHE 137, 433, BStBl II 1983, 272). Wird zwischen in Berlin (West) ansässigen Unternehmen und ausländischen Kunden als Exporteur eine GmbH eingeschaltet, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) hat, so kann ein Gestaltungsmißbrauch vorliegen, wenn keine sachgerechten erwerbswirtschaftlichen oder andere beachtliche Gründe vorliegen, die die Zwischenschaltung der GmbH rechtfertigen (vgl. das zum Umsatzsteuervergütungsrecht ergangene BFH-Urteil vom 22. Januar 1960 V 52/56 S, BFHE 70, 299, BStBl III 1960, 111). Ob die vom FG im Bereich der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung ermittelten Gründe für die Nichtanwendung des § 6 StAnpG beachtlich sind oder nicht, kann der BFH selbst entscheiden (vgl. Urteil vom 29. Juli 1976 VIII R 142/73, BFHE 120, 116, BStBl II 1977, 263).
b) In tatsächlicher Hinsicht hat das FG dazu folgendes festgestellt: Die Gründung der GmbH im Jahr 1964 brachte für den Kläger den Vorteil mit sich, die Kunden des Mitgesellschafters A über die GmbH beliefern zu können. Ein Teil der nach dem Ausscheiden des A gewonnenen Kunden hatte Bedenken geäußert, unmittelbar mit einer in Berlin (West) belegenen Firma Geschäfte zu tätigen. Diese Feststellungen sind für den erkennenden Senat mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO).
c) Das FG hat aus diesen Feststellungen gefolgert, die Einschaltung der GmbH sei weder von Anfang an noch zu einem späteren Zeitpunkt rechtsmißbräuchlich gewesen. Auch dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Zu Recht hat das FG in seiner Entscheidung darauf hingewiesen, daß die Annahme einer Steuerumgehung im Zeitpunkt der Errichtung der GmbH nicht bereits deshalb gerechtfertigt ist, weil der Kläger möglicherweise auch auf einem anderen Weg Zugang zu den Kunden des Mitgesellschafters A hätte bekommen können. Ebenso können ernsthafte Bedenken eines Kunden, mit einer in Berlin ansässigen Firma unmittelbar Geschäfte abzuschließen, einen den Rechtsmißbrauch ausschließenden beachtlichen Grund bilden. Dies vor allem deshalb, weil nach dem Schreiben der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Berlin vom 5. Juni 1980, auf das das FG in der Vorentscheidung Bezug genommen hat, Fälle bekanntgeworden sind, in denen ausländische Abnehmer den Bezug von Berliner Produkten über einen zwischengeschalteten westdeutschen Exporteur bevorzugt haben. Die IHK hat zwar darauf hingewiesen, daß es sich hierbei um ,,seltene Einzelfälle" gehandelt habe. Bei seiner Entscheidung hat der Senat jedoch davon auszugehen, daß eine Vermutung für einen Rechtsmißbrauch, die der Kläger zu widerlegen hätte, nicht besteht (vgl. BFH-Urteile vom 29. Januar 1975 I R 135/70, BFHE 115, 107, BStBl II 1975, 553; vom 19. Februar 1975 I R 26/73, BFHE 115, 327, BStBl II 1975, 584). Es wäre Sache des FA, das die objektive Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtsmißbrauchs trägt, gewesen, bereits im finanzgerichtlichen Verfahren Tatsachen vorzutragen, die geeignet gewesen wären, das Vorbringen des Klägers, insbesondere zur Ernsthaftigkeit der geltend gemachten Bedenken ausländischer Kunden, zu entkräften. Daran fehlt es im Streitfall. Der bloße Hinweis, seit Gründung der GmbH seien mehrfach die Beteiligungsverhältnisse geändert worden, führt zu keinem anderen Ergebnis. Bei der Entscheidung war schließlich zu berücksichtigen, daß die GmbH nicht nur vom Einzelhandelsunternehmen des Klägers, sondern auch von der - wenn auch gesellschaftlich verbundenen - Y-GmbH & Co. KG und in geringem Umfang von Dritten Waren bezogen hat.
Fundstellen