Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Abgrenzung von Rechtmäßigkeits- und Billigkeitsprüfung
Leitsatz (NV)
1. Im Rahmen eines Erlaßverfahrens darf - unter dem Gesichtspunkt sachlicher Billigkeit - in eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festsetzung von Abgaben (Steuern, Verspätungs- und Säumniszuschlägen z. B.) ausnahmsweise nur dann (wieder) eingetreten werden, wenn die der Abgabenerhebung zu Grunde liegende Hoheitsmaßnahme eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich (rechtzeitig) gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren.
2. Auch bei der Prüfung eines Erlasses von Säumniszuschlägen wegen sachlicher Unbilligkeit kommt es auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen nicht an.
Normenkette
AO 1977 §§ 168, 227, 240; FGO § 102
Verfahrensgang
Tatbestand
Der während des Revisionsverfahrens verstorbene und von den Klägern und Revisionsklägern (Kläger) beerbte X war Alleininhaber einer Firma für Wärme- und Kälteisolierungen in A, außerdem Eigentümer zweier bebauter Grundstücke sowie einer Kunstsammlung.
Bei einer in den Jahren 1972/73 durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Prüfer u. a. fest, daß für die Jahre 1966 und 1967 Einnahmen in erheblichem Umfang nicht verbucht worden waren, daß der Rechtsvorgänger der Kläger außerdem von Mai 1968 bis August 1972 weder Lohn- noch Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben und auch keine Zahlungen geleistet hatte. Außerdem waren die Jahresabschlüsse für 1968 bis 1971 bei Prüfungsbeginn (30. August 1972) noch nicht erstellt und Steuererklärungen für diesen Zeitraum noch nicht eingereicht worden.
Insgesamt ergaben sich hieraus Steuernachzahlungen in Höhe von ca. 1 Mio DM, die mit Hilfe von Forderungspfändungen zwangsweise beigetrieben wurden.
In diesem Zusammenhang waren bis zum April 1975 an Säumniszuschlägen und Vollstreckungskosten 133 620 DM angefallen. Außerdem waren wegen verspäteter Abgabe der Voranmeldungen und Jahressteuererklärungen Verspätungszuschläge in Höhe von 12 320 DM bestandskräftig festgesetzt worden.
Anträge auf Stundung und Vollstreckungsaufschub hinsichtlich der Hauptforderungen waren erfolglos geblieben. Einen am 11. Juli 1975 gestellten Antrag auf Erlaß der Säumniszuschläge, Vollstreckungskosten und Verspätungszuschläge lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nach mehreren Verhandlungen mit Verfügung vom 6. November 1975 ab.
Auch Beschwerde und Klage blieben erfolglos.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung des § 131 der Reichsabgabenordnung (AO). Zur Begründung tragen sie vor, die Nichterfüllung der steuerlichen Verpflichtungen durch den Rechtsvorgänger der Kläger sei auf dessen mangelnde Sachkunde und seinen angegriffenen Gesundheitszustand (Herzinfarkt, Diabetes) zurückzuführen. Die im Rahmen der Betriebsprüfung ermittelten Mehrsteuern habe der Rechtsvorgänger der Kläger wegen Liquiditätsschwierigkeiten nicht zu den Fälligkeitszeitpunkten entrichten können. Aus diesem Grunde habe das FA Zwangsvollstreckungsmaßnahmen eingeleitet. Dabei seien die Forderungen zunächst in voller Höhe gepfändet, die Pfändungen dann aber auf 30 v. H. der Bruttoforderungen gesenkt worden.
Der schwer erkrankte Rechtsvorgänger der Kläger habe sich - so heißt es zur Revisionsbegründung weiter - ,,machtlos dem für ihn unübersichtlichen Verwaltungsapparat" gegenübergesehen. Die Existenz des Unternehmens sei auf das äußerste gefährdet gewesen. Diese Gefährdung habe nur mit fremder Hilfe abgewendet werden können. Das Beitreibungsverfahren des FA sei von Überpfändungen begleitet worden. Die Versagung des Erlasses sei hinsichtlich der Säumniszuschläge sachlich unbillig, weil dieses Druckmittel zum damaligen Zeitpunkt im Hinblick auf die Zahlungsunfähigkeit des Rechtsvorgängers der Kläger sinnlos gewesen sei. Die seinerzeit gegebene Gefährdung der Existenzgrundlage biete unabhängig von dem gefährdeten Lebensunterhalt einen ausreichenden Grund für eine Billigkeitsmaßnahme.
Die Kläger beantragen sinngemäß, das angefochtene Urteil des Finanzgerichts (FG), die ablehnende Verfügung des FA vom 6. November 1975 und die hierzu ergangene Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 28. Juli 1976 aufzuheben und das FA zum Erlaß zu verpflichten.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Nach der für den Streitfall maßgeblichen Vorschrift des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO (vgl. § 415 Abs. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 - und Art. 97 § 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -, BGBl I 1976, 3341 ff.) konnten Steuern und sonstige Geldleistungen ganz oder zum Teil erlassen, im Falle der Entrichtung auch erstattet oder angerechnet werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig gewesen wäre.
Die Entscheidung über ein Erlaßbegehren nach früherem wie nach neuem Recht (§ 227 AO 1977) ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Das hat zur Folge, daß sich die gerichtliche Prüfung der einen Erlaß ablehnenden Verwaltungsentscheidungen auf die Frage zu beschränken hat, ob die Finanzbehörden die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihnen eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der zugrunde liegenden gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht haben.
Das hat das FG aufgrund der von ihm getroffenen, mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und daher für die Entscheidung des Senats maßgeblichen tatsächlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) im angefochtenen Urteil sowohl hinsichtlich der sachlichen als auch hinsichtlich der persönlichen Unbilligkeit i. S. des § 131 AO mit Recht verneint.
Sachliche Unbilligkeit setzt voraus, daß die Einziehung der in Frage stehenden Beträge mit Rücksicht auf die den einschlägigen abgabenrechtlichen Vorschriften zugrunde liegenden Zwecke nicht mehr zu rechtfertigen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. Juli 1976 VIII R 236/72, BFHE 119, 443, BStBl II 1977, 125, 126) oder daß sie den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (BFH-Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 490 f.). Bei der Billigkeitsprüfung müssen grundsätzlich solche Erwägungen unbeachtet bleiben, die der Besteuerungstatbestand typischerweise mit sich bringt (BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 490 f.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 20, jeweils m. w. N.). Desgleichen können Erwägungen, welche die Richtigkeit bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte betreffen und nach den einschlägigen Verfahrensvorschriften der richterlichen Prüfung in dem gegen diese Hoheitsmaßnahmen eröffneten Rechtsschutzverfahren unterliegen, im Billigkeitsverfahren grundsätzlich nicht beachtet werden. Das gilt selbst dann, wenn die der Einziehung zugrunde liegenden Hoheitsmaßnahmen ,,eindeutig" unrichtig sind. Ein Billigkeitserlaß in solchen Fällen kommt ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteil vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611).
An der letztgenannten Voraussetzung jedenfalls fehlt es hier. Der Rechtsvorgänger der Kläger war im hier interessierenden Zeitraum (von der Schlußbesprechung am 1. Dezember 1972 an bis in dieses Verfahren hinein) stets fachkundig beraten und nach außen hin vertreten. Ein Anhaltspunkt dafür, daß es ihm unter diesen Umständen nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen wäre, sich gegen die Vollstreckungsmaßnahmen des FA und die von ihm vorgenommenen Festsetzungen von Verspätungszuschlägen zur Wehr zu setzen, sind weder substantiiert geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich. Insoweit ist die Tatbestandsverwirklichung der gerichtlichen Nachprüfung im Erlaßverfahren entzogen. Das gilt vor allem auch für die im Rahmen der Revisionsbegründung erneut angeschnittene Frage der schuldhaften Versäumnis i. S. des § 168 Abs. 2 Satz 2 AO.
Auf die Frage, ob und inwieweit die zugrunde liegenden Hauptforderungen des FA (vor allem Umsatzsteuer und Lohnsteuer) dem Grunde oder der Höhe nach berechtigt waren, kommt es in diesem Verfahren nach dem zuvor Gesagten von vornherein ebensowenig an wie auf die in der Revisionsbegründung behauptete Unbilligkeit der Einziehung dieser Abgabenforderungen.
Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen schließlich setzt voraus, daß deren Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil deren Erhebung trotz Tatbestandsverwirklichung i. S. der § 1 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG), § 240 AO 1977 den gesetzgeberischen Wertungen im oben umschriebenen Sinne zuwiderläuft (BFH-Urteile vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58; vom 8. März 1984 I R 44/80, BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415, sowie in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489).
Auf ein Verschulden des Steuerpflichtigen kommt es nicht an, weil der Gesetzgeber die Entstehung der Säumniszuschläge hiervon unabhängig allein an den Erfolg verspäteter Zahlung geknüpft hat (§ 1 StSäumG, § 240 AO 1977; vgl. dazu BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, 491; vgl. außerdem: die BFH-Entscheidungen vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262, sowie vom 17. Juli 1985 I R 172/79, BFHE 145, 1, BStBl II 1986, 122). Schon aus diesem Grunde können die Kläger mit ihrem Vorbringen zur Entstehung der Säumniszuschläge in diesem Erlaßverfahren nicht gehört werden.
Aber auch der einzige unter dem Gesichtspunkt sachlicher Unbilligkeit verbleibende Erlaßgrund, daß die Erhebung von Säumniszuschlägen deshalb als sinnwidrig angesehen werden müßte, weil dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich war (BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415, sowie BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489), kann der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Eine derartige Situation war im Streitfall ganz offensichtlich nicht gegeben. Vor allem hat Zahlungsunfähigkeit, d. h. ein auf dem Mangel an Zahlungsmitteln beruhendes dauerndes Unvermögen zur Begleichung der sofort zu erfüllenden Geldschulden (BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415, 416, m. w. N.), nicht vorgelegen.
Auch unabhängig davon hat sich die Erhebung von Säumniszuschlägen gegenüber dem Rechtsvorgänger der Kläger nicht als dem Sinn und Zweck des Gesetzes widersprechend erwiesen. Vor allem die diversen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen des FA haben es bewirkt, daß der Steuerpflichtige schließlich dahin gebracht wurde, die zu einem erheblichen Betrag angelaufenen Steuerrückstände abzubauen und seinen laufenden Abgabenverpflichtungen nachzukommen. Mit Recht ist das FG in diesem Zusammenhang der Ansicht entgegengetreten, mit der Einleitung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen allein erweise sich die Erhebung von Säumniszuschlägen als überflüssig. Der Streitfall zeigt gerade, daß sich diese beiden, vom Gesetzgeber unabhängig voneinander geregelten Druckmittel, sowohl dasjenige zwangsweiser Durchsetzung als auch dasjenige zusätzlicher finanzieller Belastungen durch Zuschläge nicht etwa ausschließen, sondern wirksam ergänzen können, wenn es darum geht, auf die Begleichung rückständiger Steuerschulden hinzuwirken.
Eine Stundungs- oder Erlaßsituation, die unter dem Gesichtspunkt sachlicher Unbilligkeit bedeutsam sein könnte (BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489), hat zum hier interessierenden Zeitpunkt (Fälligkeit der Steuerschulden) offensichtlich ebenfalls nicht bestanden.
Auch das Vorliegen persönlicher Billigkeitsgründe ist von Finanzbehörden und FG zu Recht verneint worden: Es ist angesichts des äußeren Geschehensablaufs nicht ersichtlich, daß gerade die Zahlung des Betrages von 145 940 DM die Existenz des Rechtsvorgängers der Kläger gefährdet hätte (vgl. dazu näher BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl II 1981, 726 ff.).
Schließlich ist es unter den Umständen, die zu den Steuerrückständen geführt haben, nicht zu beanstanden, daß die Erlaßwürdigkeit des Steuerpflichtigen verneint wurde, weil dieser durch die Nichterfüllung seiner steuerlichen Verpflichtungen in erheblicher Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat und sich in diesem Zusammenhang auch ein mögliches Verschulden seines Buchhalters zurechnen lassen muß . . .
Fundstellen