Entscheidungsstichwort (Thema)
Anbringen einer Klage beim FA
Leitsatz (NV)
1. Als Prozeßhandlung ist das Anbringen eines Rechtsbehelfs (§47 Abs. 2 Satz 1 FGO) in gleicher Weise wie bürgerlich- rechtliche Willenserklärungen der Auslegung zugänglich, wobei nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung verkörperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln ist; auf die korrekte Bezeichnung des Rechtsbehelfs kommt es nicht an.
2. Prozeßerklärungen sind so auszulegen, daß im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (Anschluß an BFH-Urteil vom 8. November 1996 VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363).
Normenkette
FGO § 47 Abs. 1-2, § 64 Abs. 1; AO 1977 § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. a Hs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger und seine Ehefrau (die Kläger) betrieben einen ambulanten Blumenhandel. Die Ehefrau des Klägers ist im August 1997 verstorben. Der Kläger ist ihr Rechtsnachfolger.
Die Kläger reichten für das Streitjahr 1993 keine Steuererklärungen ein.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) schätzte die Besteuerungsgrundlagen nach §162 der Abgabenordnung (AO 1977) und erließ gegen die zusammen zu veranlagenden Kläger einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid, gegen die Ehefrau des Klägers einen Umsatzsteuerbescheid sowie einen Bescheid über den Gewerbesteuermeßbetrag und die Gewerbesteuer. Nachdem die Steuererklärungen trotz weiterer Mahnungen nicht eingereicht wurden, wies das FA die Einsprüche gegen sämtliche Bescheide mit Einspruchsentscheidungen vom 10. Mai 1996 zurück. Die Einspruchsentscheidungen wurden den Klägern mit Postzustellungsurkunde vom 13. Mai 1996 durch Niederlegung zugestellt.
Mit Schreiben vom 30. Mai 1996 an das FA legten die Kläger gegen die Einspruchsentscheidung "Form und Fristgerecht Beschwerde" ein. Sie kündigten an, "die Steuererklärungen für das Jahr 1993 in den nächsten zwei Wochen" einzureichen.
Das FA wies die Kläger mit Schreiben vom 13. Juni 1996 darauf hin, daß nicht die Beschwerde, sondern die Klage der statthafte Rechtsbehelf gegen die Einspruchsentscheidungen sei.
Die Kläger reichten am 17. Juni 1996 die angekündigten Steuererklärungen für das Streitjahr beim FA ein. Dieses teilte den Klägern mit Schreiben vom 20. Juni 1996 mit, die Steuererklärungen könnten wegen der Bestandskraft der Steuerbescheide nicht mehr berücksichtigt werden.
Am 16. August 1996 baten die Kläger das FA erneut um Berücksichtigung der eingereichten Steuererklärungen. Sie wiesen darauf hin, daß die falsche Bezeichnung "Beschwerde" in dem Schreiben vom 30. Mai 1996 auf ihre Unkenntnis beruhe und darauf, daß ihr überalterter Steuerberater nicht mehr in der Lage sei, den Sachverhalt zu klären.
Die Kläger übersandten das Schreiben vom 16. August 1996 mit Kurzmitteilung vom selben Tag "bereits vorab zur Kenntnisnahme" an das Finanzgericht (FG).
Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Das Beschwerdeschreiben der Kläger vom 30. Mai 1996 sei zwar innerhalb der Klagefrist von einem Monat beim FA eingereicht worden. Dieses Schreiben könne aber nicht als Klageschrift ausgelegt oder umgedeutet werden.
Das spätere Schreiben vom 16. August 1996 könne zwar als Klageerhebung ausgelegt werden. Diese Klage sei aber außerhalb der einmonatigen Klagefrist nach §47 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eingegangen und somit verspätet. Zwar hätten die Kläger insoweit einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Wiedereinsetzung könne ihnen jedoch nicht gewährt werden, da sie die versäumte Handlung nicht innerhalb der in §56 Abs. 2 FGO vorgesehenen Frist nachgeholt hätten. Eine Klageschrift sei erst mehr als zwei Monate nach dem Erhalt des Schreibens des FA vom 13. Juni 1996 beim FG eingegangen.
Der Kläger rügt mit seiner vom Senat zugelassenen Revision Verletzung formellen Rechts. Er legt im wesentlichen dar, das FG habe zu Unrecht eine Sachentscheidung nicht getroffen; es hätte die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.
Der Kläger beantragt sinngemß, das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidungen und die Schätzungsbescheide aufzuheben und die Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer 1993 nach den eingereichten Steuererklärungen festzusetzen.
Das FA hat unter Hinweis auf seine Ausführungen im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde auf eine Stellungnahme zur Revision verzichtet.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hat die Klage zu Unrecht als verspätet und damit unzulässig abgewiesen.
1. Die Kläger haben innerhalb der Klagefrist eine Klage beim FA angebracht (§47 Abs. 2 FGO), da ihr Schreiben vom 30. Mai 1996 als Klageschrift anzusehen ist.
Grundsätzlich ist eine Klage gemäß §64 Abs. 1 FGO schriftlich bei dem Gericht zu erheben. Es genügt jedoch, wenn die Klage innerhalb der Frist des §47 Abs. 1 FGO bei der Behörde angebracht wird, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat (§47 Abs. 2 Satz 1 FGO). Als Prozeßhandlung ist das Anbringen eines Rechtsbehelfs in gleicher Weise wie bürgerlich-rechtliche Willenserklärungen der Auslegung zugänglich, wobei nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung verkörperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln ist; auf die korrekte Bezeichnung des Rechtsbehelfs kommt es nicht an. Darüber hinaus ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung grundsätzlich davon auszugehen, daß der Steuerpflichtige den Rechtsbehelf einlegen wollte, der seinen Belangen entspricht, und der zu dem von ihm angestrebten Erfolg führen kann (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 18. Dezember 1985 I R 30/85, BFH/NV 1986, 675, m. w. N.). Prozeßerklärungen sind daher so auszulegen, daß im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Urteil vom 8. November 1996 VI R 37/94, BFH/NV 1997, 363, m. w. N.).
Nach diesen Grundsätzen ist das Schreiben der Kläger vom 30. Mai 1996, auch wenn es an das FA gerichtet und als Beschwerde bezeichnet ist, als Klage zu werten. Denn dem Schriftsatz ist eindeutig zu entnehmen, daß die Kläger, die nicht durch einen Steuerberater oder Rechtsanwalt vertreten waren, sich mit dem Ersuchen um rechtliche Überprüfung gegen die Einspruchsentscheidungen vom 10. Mai 1996 wenden. Da die Kläger die Einreichung der Steuererklärungen für 1993 erst angekündigt haben, entspricht es ihrem wohlverstandenen Interesse, nicht lediglich einen Antrag auf sog. schlichte Änderung der Steuerbescheide zu stellen (vgl. §172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a Satz 2 AO 1977), sondern die Bestandskraft der Bescheide durch die Einlegung eines (gerichtlichen) Rechtsbehelfs hinauszuschieben. Daß die Kläger letzteres wollten, geht auch aus der Formulierung "Form und Fristgerecht" in der so bezeichneten Beschwerde hervor. Ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, daß die Kläger das Gericht nicht ausdrücklich erwähnen.
Spätestens mit der Übersendung der Akten durch das FA ist die Klage beim FG eingegangen, die Sache damit rechtshängig geworden. Da die Anbringung der Klage beim FA innerhalb der Klagefrist (Zustellung der Einspruchsentscheidung: 13. Mai 1996, Ablauf der Klagefrist: 13. Juni 1996) erfolgte, galt die Frist für die Erhebung der Klage als gewahrt (§47 Abs. 2 FGO).
Das FG hätte die Klage deshalb nicht durch Prozeßurteil als unzulässig abweisen dürfen. Auf die durch das FG erörterte Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumens der Klagefrist kommt es im Streitfall nicht an.
2. Da das FG Feststellungen zur materiellen Rechtslage nicht getroffen hat, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen