Leitsatz (amtlich)
Bestandskräftig festgesetzte Steuern können im Billigkeitsverfahren (§ 227 AO 1977) nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Beruht eine fehlerhafte Steuerfestsetzung auf unzureichenden Angaben des Steuerpflichtigen, ist eine sachliche Überprüfung im vorstehenden Sinn in der Regel ausgeschlossen.
Normenkette
AO 1977 § 227 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) haben in ihrer Einkommensteuererklärung 1974 ihren jeweiligen Bruttoarbeitslohn als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erklärt. Werbungskosten haben sie nicht angegeben. Eine Anlage zur Einkommensteuererklärung enthält den Vermerk "Angaben über abzugsfähige Aufwendungen werden nachgereicht" Dies ist, trotz mehrmaliger Erinnerung und Androhung einer Veranlagung im Schätzungswege, nicht geschehen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) hat deshalb die Kläger im Wege der Schätzung entsprechend den Angaben in der Steuererklärung unter Berücksichtigung eines Werbungskostenpauschbetrags von je 564 DM veranlagt. Der dagegen verspätet eingelegte Einspruch ist als unzulässig zurückgewiesen worden. Die Klage ist abgewiesen worden.
Daraufhin beantragten die Kläger, die sich aus dem Einkommensteuerbescheid 1974 ergebenden Ansprüche zu erlassen. Der Antrag wurde abgelehnt. Die dagegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat aufgrund der Klage den den Erlaßantrag ablehnenden Bescheid und die Beschwerdeentscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das FA zurückverwiesen. Zur Begründung hat das EG ausgeführt: Ein Erlaßantrag wegen sachlicher Unbilligkeit könne nicht allein darauf gestützt werden, daß die Steuerfestsetzung falsch sei. Dieser Grundsatz erfahre allerdings eine Einschränkung, wenn die Steuerfestsetzung eindeutig fehlerhaft sei (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. August 1962 II 112/59 U, BFHE 76, 409, BStBl III 1963, 150). Ein solcher Ausnahmefall liege im Streitfall vor, wobei zu berücksichtigen sei, daß bei der Durchführung der Veranlagung für 1974 auch Verfahrensfehler unterlaufen seien.
Das FA rügt die Verletzung materiellen Rechts. Es ist der Auffassung, daß eine bestandskräftig festgesetzte Steuer, soweit keine anderen Erlaßgründe geltend gemacht werden, ausnahmsweise nur dann erlassen Seite werden könne (§ 227 der Abgabenordnung - AO 1977-), wenn die Steuerfestsetzung eindeutig fehlerhaft und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und auch nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Veranlagung rechtzeitig zu wehren. Im Streitfall liege keine eindeutig fehlerhafte Veranlagung vor. Die Kläger hätten außerdem die Möglichkeit gehabt, die Steuerfestsetzung im Rechtsbehelfsverfahren überprüfen zu lassen.
Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klageabweisung.
Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Ebenso wie nach der früheren Vorschrift des § 131 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung (AO), die dem § 227 Abs. 1 AO 1977 inhaltlich entspricht, kann eine Unbilligkeit entweder in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben (BFH-Entscheidung vom 2. März 1961 IV R 126/60 U, BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288). Im Streitfall kann nur ein Erlaß aus sachlicher Unbilligkeit in Betracht kommen.
Der Vorinstanz ist beizutreten, wenn sie unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 3. März 1970 II 135/64, BFHE 99, 8, BStBl II 1970, 503, und vom 4. Mai 1977 I R 236/74, BFHE 122, 388, BStBl II 1977, 771) die Auffassung vertritt, daß ein Erlaßantrag wegen sachlicher Unbilligkeit nicht allein darauf gestützt werden kann, daß die bestandskräftige Steuerfestsetzung falsch sei. Rechtsirrig hat jedoch das FG angenommen, daß eine Ausnahme von diesem Grundsatz schon dann gegeben sei, wenn eine bestandskräftige Steuerfestsetzung "eindeutig" unrichtig ist.
Bereits aus der Entscheidung in BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288 ergibt sich, daß eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Billigkeitsverfahren nicht schon dann sachlich überprüft werden kann, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist. Es ist vielmehr außerdem erforderlich, daß es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. auch BFH Urteil vom 28. Oktober 1965 III 225/62 U, BFHE 84, 155, BStBl III 1966, 56 und Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 227 Anm. 21). Darüber hinaus ist der Senat der Auffassung, daß eine sachliche Überprüfung einer bestandskräftig festgesetzten Steuer im Billigkeitsverfahren in der Regel dann ausgeschlossen ist, wenn die fehlerhafte Steuerfestsetzung auf eigenen unzureichenden Angaben des Steuerpflichtigen in seiner Steuererklärung beruht. Rechtsfolgen, die durch Nachlässigkeit eingetreten sind, können nicht im Wege des Steuererlasses ausgeräumt werden (Hübschmann/Hepp/Spitaler, a. a. O., Anm. 20).
Das FG hat diese Rechtsgrundsätze nicht beachtet. Die Kläger haben in ihrer Einkommensteuererklärung keine Werbungskosten angegeben. Unter diesen Umständen brauchte das FA entgegen der Auffassung des FG Werbungskosten nicht aufgrund der in den Vorjahren geltend gemachten Werbungskosten zu schätzen. Das gilt insbesondere deshalb, weil die Kläger trotz mehrfacher Aufforderung die fehlenden Angaben nicht nachgeholt haben.
Der Senat vermag, entgegen der Auffassung des FG auch keinen verfahrensrechtlichen Fehler des FA darin zu erkennen, daß nach den Erläuterungen in dem Steuerbescheid die Veranlagung "antragsgemäß" durchgeführt worden ist. Dieser Hinweis bezieht sich auf die Angaben in der Steuererklärung, in der keine Werbungskosten angegeben worden waren. Dem der Steuererklärung beigefügten Vermerk, die Angaben über die Werbungskosten würden nachgereicht, brauchte das FA, nachdem es mehrmals an die Nachreichung erinnert hatte, keine Beachtung mehr zu schenken.
Zugunsten des Klägers kann auch nicht angenommen werden, daß es ihm nicht möglich und auch nicht zumutbar war, seine Werbungskosten rechtzeitig geltend zu machen bzw. gegen den Einkommensteuerbescheid 1974 rechtzeitig Einspruch einzulegen. Zwar haben die Kläger vorgetragen, die Vorlage weiterer Unterlagen zur Einkommensteuererklärung 1974 hätte sich durch wiederholte Krankheit des Bevollmächtigten verzögert. Dieser habe mehrfach überraschend ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Selbst wenn man diesen Vortrag als zutreffend unterstellt, werden die Kläger dadurch nicht entlastet; denn es wäre ihnen zumutbar gewesen, unter diesen Umständen selbst Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1974 einzulegen, um dadurch den Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheides zu hindern.
Fundstellen
Haufe-Index 426001 |
BStBl II 1981, 611 |
BFHE 1981, 255 |