Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewegte Lieferung bei innergemeinschaftlichen Reihengeschäften
Leitsatz (amtlich)
1. Auch, wenn bei einem innergemeinschaftlichen Reihengeschäft der Abnehmer des im anderen Mitgliedsstaat ansässigen Vertragspartners des Unternehmers den Spediteur mit dem Transport der Ware beauftragt und dieser die Ware direkt an den Sitz dieses Abnehmers befördert, ist die bewegte Lieferung derjenigen des Unternehmers an seinen Vertragspartner – also der ersten Lieferung – zuzuordnen, wenn der Unternehmer weder wusste, noch wissen musste, dass der Transportauftrag vom Abnehmer des Unternehmers erteilt wurde.
2. Steht fest, dass die Ware in den anderen Mitgliedsstaat gelangt ist und liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Unternehmer von einem Steuerbetrug des Abnehmers wusste oder wissen musste, so kommt es für die Steuerfreiheit der Lieferung nicht darauf an, ob die Buch- und Belegnachweise vollständig sind und die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes vorliegen.
Normenkette
UStG § 3 Abs. 6 S. 5, § 6a; UStDV §§ 17a, 17c
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist die umsatzsteuerliche Beurteilung des Verkaufs von zwanzig neuen VW Golfs durch die Klägerin an einen Abnehmer mit Sitz in England im Jahr 2007 im Rahmen eines Reihengeschäfts.
Die Klägerin betreibt als Vertragshändlerin des Volkswagenkonzerns ein Autohaus mit Werkstatt und Gebrauchtfahrzeughandel. Mit zehn Rechnungen vom 31. Juli 2007 veräußerte sie unter Vermittlung von Herrn O. S. zehn Neufahrzeuge zum Preis von jeweils 21.696,51 Euro inklusive Transportkosten und Kfz-Briefgebühr (gesamt: 216.965,10 Euro) an die Firma S Transport Services Limited (im Folgenden "S") mit Sitz in C in England (Rechnungen Bl. 66 bis Bl. 75 d. PrA.). Weitere zehn Fahrzeuge veräußerte sie zum Preis von jeweils 22.290,00 Euro inklusive Transportkosten und Kfz-Briefgebühr (gesamt: 222.900,00 Euro) mit Rechnungen vom 7. November 2007 ebenfalls an die Firma S mit Sitz in C (Rechnungen Bl. 76 bis 95 d. PrA.). Die von S angegebene Umsatzsteuer-Identifikationsnummer "GB...083" wurde von der Klägerin mit einfacher Bestätigung am 26. Juli 2007 und am 30. August 2007 erfolgreich als gültig verifiziert (Bl. 32 d. PrA.).
Als Käufer für die ersten zehn VW Golfs war zunächst in den verbindlichen Bestellungen die Firma C Limited in London benannt (z.B. Bl. 18 d. Bp-Akte). Die Klägerin änderte dies später auf die Firma S durch Überkleben des Adressfeldes (z.B. Bl. 21 d. Bp-Akte). Die Fahrzeuge wurden durch eine Spedition "C Services" transportiert (CMR Frachtbriefe Bl. 104 ff. d. PrA.), wobei ein Fahrzeugtransport durch die E Ltd. als Unterfrachtführer der C Services Ldt. (CS) abgewickelt wurde (Bl. 164 d. PrA.). Die VW Golfs des ersten Kaufpakets wurden am 26. Juli 2007 bzw. am 1. August 2007 von der Spedition bei der Klägerin in B abgeholt (vgl. CMR-Frachtbriefe, Bl. 105 und Bl. 107 d. PrA.). Die Golfs des zweiten Kaufpaktes am 7. November 2007 bzw. ein Fahrzeug am 18. Dezember 2007 (vgl. CMR-Frachtbriefe, Bl. 108 f. d.PrA.). Empfänger der Lieferungen war ausweislich der Frachtbriefe jeweils die Firma W, wobei 11 Fahrzeuge unmittelbar nach S (GB) (Bl. 104 ff. d. PrA.) und 9 Fahrzeuge nach T (GB) (Bl. 108 d. PrA. bzw. Bl. 48 d. Bp-Akte) geliefert wurden.
Im Rahmen eines während des Klageverfahrens vom Beklagten angestrengten Auskunftsersuchen vom 29. Dezember 2010 an die britische Finanzverwaltung konnte folgender weiterer Sachverhalt ermittelt werden (siehe Antwort Bl. 172 d. PrA.): Danach verkaufte S alle Fahrzeuge an die Firma W aufgrund mündlicher Vereinbarung unter Rechnungsstellung mit Mehrwertsteuerausweis (siehe Beispielsrechnung Bl. 178 d. PrA.). Die ersten zehn Fahrzeuge wurden jeweils mit Rechnung vom 11. Juli 2007 zu einem Preis von jeweils 13.361,70 £ zzgl. 2.338,30 £ Mehrwertsteuer von S an die Firma W verkauft (Bl. 178 d. PrA.). Die weiteren zehn Fahrzeuge wurde mit Rechnung vom 17. Oktober 2007 zu einem Verkaufspreis von jeweils 14.212,77 £ zzgl. 2.487,23 £ Mehrwertsteuer von S an die Firma W Ltd. veräußert (Bl. 185 d. PrA.). Die Beauftragung der Spedition C Services, die Fahrzeuge bei der Klägerin abzuholen und zu W zu befördern, erfolgte durch Auftrag und auf Rechnung der Firma W Limited, vertreten durch ihren Geschäftsführer I. C. (Bl. 176 d. PrA.).
Die Klägerin behandelte die Fahrzeuglieferungen umsatzsteuerlich als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen. Im Anschluss an eine Umsatzsteuernachschau ging das Finanzamt aufgrund einer Auskunft der britischen Finanzbehörden davon aus, dass die Lieferung der Fahrzeuge steuerpflichtig sei. Der Beklagte erließ am 14. Mai 2009 einen Umsatzsteuerbescheid für 2007, indem er die erklärten steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen in Höhe von 439.865,10 Euro nicht anerkannte und in der Folge die steuerpflichtigen Umsätze um 369.634,53 Euro erhöhte (Bl. 6 d. Umsatzsteuerakte). Die Klägerin legte hiergegen form- und fristgerecht Einspruch ein (Bl. 8 d...