Rz. 52
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Im Rahmen der oben dargestellten Änderungsmöglichkeiten gibt § 177 AO den Beteiligten die Möglichkeit, soweit die Änderung reicht, auch die Beseitigung solcher Fehler zu verlangen, die für sich allein eine Änderung nicht rechtfertigen würden. Materielle Fehler idS sind alle Fehler, die zu einer von der zutreffenden Steuer abweichenden Steuerfestsetzung geführt haben (§ 177 Abs 3 AO); das ist jede objektive Unrichtigkeit, auch die > Offenbare Unrichtigkeit iSv § 129 AO. Deshalb ist ein Bescheid nicht nur dann fehlerhaft, wenn geltendes Recht unrichtig angewandt wurde, sondern auch, wenn der Steuerfestsetzung ein Sachverhalt zugrunde gelegt worden ist, der sich als unrichtig erweist (BFH 148, 394 = BStBl 1987 II, 297). Berichtigt werden können auch solche Fehler, die wegen Eintritt der > Verjährung von Steueransprüchen nicht mehr nach den §§ 172ff AO geändert werden könnten (BFH 214, 105 = BStBl 2007 II, 87 mwN – dort auch zum Umfang der Fehlerbeseitigung nach § 177 AO; bestätigt durch Nichtannahmebeschluss BVerfG vom 10.06.2009 – 1 BvR 571/07, BFH/NV 2009, 1578); es sei denn, die Berichtigung ist nach den Grundsätzen von > Treu und Glauben ausgeschlossen (BFH 167, 1 = BStBl 1992 II, 504). Im Ergebnis können drei Möglichkeiten unterschieden werden (vgl AEAO zu § 177 Nr 2):
Rz. 53
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
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§ 177 Abs 1 AO: Bei einer Änderung zuungunsten des Stpfl kann er im günstigsten Fall erreichen, dass es bei der bisher festgesetzten Steuer verbleibt. Das FA darf dagegen höchstens die Steuer festsetzen, die sich allein bei Vornahme der zulässigen Änderung ergeben hätte. |
Beispiel 1:
Die ESt für A ist auf 10 000 EUR festgesetzt. Dem FA werden neue Tatsachen bekannt, die eine Erhöhung der Steuer um 2 000 EUR ergeben (§ 173 Abs 1 Nr 1 AO; > Rz 14 ff). A (oder das FA) kann nunmehr im Rahmen zwischen 10 000 EUR (bisher festgesetzte Steuer) und 12 000 EUR (Steuer, wenn allein die neuen Tatsachen zuungunsten des A berücksichtigt werden) Gründe für die Beseitigung materieller Fehler (§ 177 Abs 1 AO) "nachschieben". Würde sich dadurch die Steuer um 2 000 EUR oder mehr mindern, ändert das FA den Steuerbescheid nicht.
Beispiel 2:
Die > Einkünfte des B werden vom FA wegen Nichtabgabe einer > Steuererklärung geschätzt (> Schätzung Rz 2 ff). Dabei werden Einkünfte aus Gewerbebetrieb angesetzt. Nach Erhalt des ESt-Bescheids über 10 000 EUR erklärt B nur Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die zu einer ESt von 8 000 EUR führen. Hinsichtlich der nicht entstandenen Einkünfte aus Gewerbebetrieb steht einer Änderung zugunsten des B das grobe > Verschulden aus der Nichtabgabe der Steuererklärung entgegen (> Rz 23). Die erklärten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit führen zu einer höheren Steuer (+ 8 000 EUR; Änderung gemäß § 173 Abs 1 Nr 1 AO; > Rz 14 ff). Soweit diese Änderung reicht, sind die nicht entstandenen, aber im ESt-Bescheid angesetzten Einkünfte aus Gewerbebetrieb als materieller Fehler nach § 177 Abs 1 AO mit zu berichtigen (./. 8 000 EUR). Im Ergebnis bleibt die ursprüngliche Steuerfestsetzung unverändert. Die dem B einbehaltenen Steuerabzugsbeträge können aber angerechnet werden (§ 36 Abs 2 Nr 2 EStG; > Veranlagung von Arbeitnehmern Rz 190 ff).
Die Saldierung zwischen der nachträglich bekannt gewordenen höheren Besteuerungsgrundlage des einen > Ehegatten oder beim eingetragenen > Lebenspartner mit einem Rechtsfehler, der zu einem zu hohen Ansatz der Besteuerungsgrundlage des anderen geführt hat, ist bei Zusammenveranlagung (> Ehegattenbesteuerung Rz 25 ff) zulässig (BFH 148, 394 = BStBl 1987 II, 297; BFH/NV 2004, 19);
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Stand: EL 128 – ET: 11/2021
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§ 177 Abs 2 AO: Bei einer Änderung zugunsten des Stpfl kann das FA durch Beseitigung von materiellen Fehlern nur erreichen, dass die bisher festgesetzte Steuer bestehen bleibt. Der Stpfl kann dagegen höchstens erreichen, dass die Steuer festgesetzt wird, die sich allein aufgrund der zulässigen Änderung – ohne Beseitigung von materiellen Fehlern – ergeben hätte. |
Beispiel 3:
Die ESt für C ist auf 10 000 EUR festgesetzt worden. C teilt dem FA nachträglich neue Tatsachen mit, die eine Herabsetzung der Steuer um 1 000 EUR rechtfertigen (§ 173 Abs 1 Nr 2 AO; > Rz 14 ff). Das FA kann zwischen 9 000 EUR (Steuer, wenn allein die neuen Tatsachen zugunsten des C berücksichtigt werden) und 10 000 EUR (bisher festgesetzte Steuer) materielle Fehler nach § 177 Abs 2 AO beseitigen. Sollte dies eine Erhöhung der Steuer um 1 000 EUR oder mehr ausmachen, setzt das FA die Steuer für C nicht um 1 000 EUR herab. Die bisherige Steuerfestsetzung bleibt unverändert.
Beispiel 4:
Nach Erhalt seines ESt-Bescheids über 10 000 EUR macht D beim FA geltend, in der > Steuererklärung ohne grobes > Verschulden nicht angegebene Aufwendungen für > Studienreisen nachträglich als WK bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit abzuziehen. Das rechtfertigt eine Minderung der Steuer um 2 500 EUR. In der Steuerakte des FA für D befindet sich außerd...