Rz. 30
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Steuerlich bedeutsame Sachverhalte können gelegentlich mehrere, je nach Gestaltung aber uU auch nur eine von mehreren möglichen Steuern auslösen. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass derselbe Sachverhalt in unterschiedlichen VA mehrfach oder auch gar keinen Niederschlag findet. Der Beseitigung derartiger Fehler dient § 174 AO. Dabei ist unerheblich, ob die Steuern irrtümlich oder absichtlich widerstreitend festgesetzt worden sind (BFH 179, 196 = BStBl 1996 II, 148). Die Durchbrechung der Bestandskraft von Steuerbescheiden (und diesen gleichgestellten VA; > Rz 4 ff) ist aber nur dann zulässig, wenn ein bestimmter Sachverhalt steuerlich widerstreitend behandelt worden ist, dh dem FA bei der Steuerfestsetzung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist (BFH 160, 140 = BStBl 1990 II, 558). Handelt es sich dagegen um verschiedene Sachverhalte, so kommt § 174 AO auch dann nicht in Betracht, wenn zwischen den Sachverhalten eine rechtslogische Verknüpfung besteht (BFH 174, 1 = BStBl 1994 II, 597 mwN). Ein "bestimmter Sachverhalt" iSv § 174 AO ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft und der nicht periodenbezogen einschränkend auszulegen ist. Gemeint ist nicht nur die einzelne steuererhebliche Tatsache oder das einzelne Merkmal, sondern auch der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex (vgl zB BFH 228, 122 = BStBl 2010 II, 586 mwN; BFH 251, 389 = BStBl 2017 II, 15 mwN; BFH/NV 2013, 690).
aa) Fälle des § 174 Abs 1 und 2 AO
Rz. 31
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Ist ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Stpfl berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen (gesetzeswidrige Doppelerfassung), so ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs 1 AO).
Beispiel 1:
a) Die Zuwendungen eines ArbG an einen ArbN werden sowohl der Lohnsteuer als auch der Schenkungsteuer unterworfen; > Arbeitslohn Rz 121 (Objektkollision).
b) Laufende Bezüge eines Lohnzahlungszeitraums, der am 10.01.2022 endet, sind sowohl im Jahr 2021 als auch im Jahr 2022 erfasst worden (Periodenkollision).
c) > Einnahmen des A werden versehentlich auch bei B erfasst (Subjektkollision).
In allen Beispielsfällen ist der fehlerhafte Bescheid auf Antrag des Stpfl nach § 174 Abs 1 AO aufzuheben oder zu ändern.
Eine widerstreitende Steuerfestsetzung iSd § 174 Abs 1 AO kann auch der Bescheid einer FinBeh aus dem EU-/EWR-Ausland begründen (BFH 238, 1 = BStBl 2013 II, 566; AEAO zu § 174 Nr 5 – mit Beispiel); anders bei Drittstaaten (EFG 2014, 705 = DStRE 2015, 181). Ein Widerstreit zwischen einem inländischen und einem ausländischen > Steuerbescheid liegt nicht vor, wenn derselbe Sachverhalt im Ausland bei der > Bemessungsgrundlage für die Steuer und im Inland iRd > Progressionsvorbehalt hätte berücksichtigt werden können (BFH 263, 492 = BStBl 2020 II, 463; BFH/NV 2019, 674).
Rz. 32
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§ 174 Abs 1 AO gilt sinngemäß, wenn derselbe Sachverhalt in mehreren Bescheiden zugunsten eines oder mehrerer Stpfl berücksichtigt worden ist (§ 174 Abs 2 AO). Das gilt aber nur, wenn die Änderung durch einen Antrag oder eine Erklärung des Stpfl angestoßen worden ist (§ 174 Abs 2 Satz 2 AO). § 174 Abs 2 AO greift somit immer dann, wenn der Stpfl die vorteilhafte Festsetzung durch eine objektiv falsche Darstellung verursacht hat (BFH 139, 347 = BStBl 1984 II, 510). Demzufolge darf nicht nach § 174 Abs 2 AO geändert werden, wenn der Stpfl den für die Besteuerung erheblichen Sachverhalt vollständig und richtig dargestellt hat (BFH 132, 182 = BStBl 1981 II, 388). Auch Fehler im amtlichen Steuererklärungsvordruck rechtfertigen keine Änderung nach § 174 Abs 2 AO (BFH 269, 257 = BFH/NV 2021, 80).
Rz. 33
Stand: EL 128 – ET: 11/2021
Das F...