Rz. 10
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Für die FinVerw bestimmt § 5 AO, dass eine FinBeh, die ermächtigt (> Rz 11 ff) ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck (> Rz 15) der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen (> Rz 16 ff) des Ermessens einzuhalten hat.
1. Ermächtigung zur Ermessensausübung
Rz. 11
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Eine FinBeh ist ermächtigt, eine Ermessensentscheidung zu treffen, wenn ein Gesetz keine zwingende Rechtsfolge enthält. Das Wort "Ermessen" wird dabei vom Gesetzgeber eher selten verwendet. Häufig handelt es sich um sog Kann-Vorschriften, zB wenn in § 39e Abs 7 Satz 1 EStG bestimmt wird, dass das > Betriebsstätten-Finanzamt zulassen kann, dass ein ArbG nicht am Abrufverfahren der elektronischen > Lohnsteuerabzugsmerkmale Rz 5/3 teilnimmt. Doch nicht jede Kann-Vorschrift stellt eine Ermessensermächtigung dar. Das Wort "kann" wird zum Teil auch im Sinne einer Kompetenzzuweisung verwendet. Für die Beurteilung der Frage, ob der FinVerw ein Ermessen eingeräumt worden ist, darf deshalb nicht nur auf die Wortwahl abgestellt werden, sondern es muss auch der systematische Zusammenhang berücksichtigt werden (vgl BFH 261, 210 = BStBl 2018 II, 481).
Rz. 12
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Soll-Vorschriften sind im Regelfall für die FinBeh rechtlich zwingend und verpflichten sie, grundsätzlich so zu verfahren, wie es die Rechtsnorm mit ihrer Rechtsfolgenanordnung vorgibt. Für den Regelfall handelt es sich um eine gebundene Entscheidung. Nur wenn Umstände vorliegen, die den Fall als atypisch ansehen lassen, darf die FinBeh nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Ob ein atypischer Fall gegeben ist, der eine Ermessensentscheidung ermöglicht, kann vom FG geprüft und entschieden werden.
Rz. 13
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Eine Ermächtigungsnorm kann es der Verwaltung überlassen, ob sie überhaupt (Entschließungsermessen) oder wie (Auswahlermessen) sie tätig wird. Nach § 95 AO kann eine FinBeh > Beteiligte unter bestimmten Voraussetzungen auffordern, dass sie die Richtigkeit von Tatsachen, die sie behaupten, an Eides statt versichern. Es liegt jedoch im Erschließungsermessen der FinBeh, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen will. Ein Auswahlermessen hat sie zB bei der Entscheidung, ob sie den ArbN oder den ArbG für zu wenig einbehaltene LSt in Anspruch nehmen will (> Haftung für Lohnsteuer Rz 72). Nach § 36 Abs 4 Satz 3 EStG kann die FinBeh entscheiden, an welchen Ehegatten es im Falle einer > Zusammenveranlagung einen Erstattungsbetrag zahlen will (> Erstattung von Lohnsteuer Rz 58/1). In vielen Fällen liegt jedoch sowohl ein Entschließungs-, als auch ein Auswahlermessen vor. Wenn § 152 AO es zulässt, dass gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer > Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachkommt, ein > Verspätungszuschlag festgesetzt werden kann, überträgt der Gesetzgeber der FinBeh die Entscheidung darüber, ob überhaupt ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden soll (Entschließungsermessen) und gleichzeitig, wie, dh in welcher Höhe (Auswahlermessen), er festgesetzt werden soll. Zu typischen Einzelfällen der Ermessensausübung vgl Pump/Leibner, Das Ermessen im Steuerrecht, StBp 2006, 37.
Rz. 14
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Randziffer einstweilen frei.
2. Zweck der Ermächtigung
Rz. 15
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Eine FinBeh, die ermächtigt worden ist, eine Ermessensentscheidung zu treffen (> Rz 11 ff), hat diese dem Zweck der Ermächtigung entsprechend auszuüben. Der Zweck einer Vorschrift ist dabei nicht nur dem Wortlaut der Ermessensermächtigung selbst zu entnehmen. Auch Tatsachen und Umstände, die nicht zum Tatbestand der Ermessensnorm gehören, können für die Ermessensausübung bedeutsame Gesichtspunkte sein (vgl BFH 227, 327 = BStBl 2010 II, 382).
3. Grenzen des Ermessens
Rz. 16
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Das Ermessen ist nicht nur dem Zweck der Ermächtigung entsprechend auszuüben; es sind auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 5 AO). Das Ermessen ist deshalb nie frei (willkürlich), sondern stets "pflichtgemäß" auszuüben (BVerfG 18, 353 [363]; 49, 89 [147]). Dabei sind die Grundsätze der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (> Gleichheitssatz), der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Erforderlichkeit, der Zumutbarkeit, der > Billigkeit und von > Treu und Glauben sowie das Willkürverbot und das Übermaßverbot zu beachten (AEAO zu § 5).
Rz. 17
Stand: EL 135 – ET: 08/2023
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass bei der Ausübung des Ermessens das gewählte Mittel geeignet und erforderlich sein muss, um den angestrebten Zweck zu erreichen. Geeignet ist ein Mittel, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg zumindest gefördert werden kann. Erforderlich ist ein Mittel, wenn es kein anderes, gleich wirksames, aber weniger fühlbar einschränkendes Mittel gibt (vgl BFH 276, 555 = BFH/NV 2022, 1266, dazu zB Hilbert, NWB 2022, 2945 und Schwindt/Blesius, DStR 2023, 1459). Außerdem darf ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel zur Durchsetzung von Allgemeininteressen nicht angewandt werden, wenn die davon ausgehenden Gru...