1. Grundsätzliches
Rz. 95
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Soweit die Haftung des ArbG reicht, sind ArbG und ArbN Gesamtschuldner. Das > Betriebsstätten-Finanzamt kann die Steuer- oder Haftungsschuld nach pflichtgemäßem > Ermessen (> Rz 100 ff) grundsätzlich gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs 3 Satz 1, 2 EStG; BFH 114, 342 = BStBl 1975 II, 297 mwN). Jeder Gesamtschuldner schuldet die gesamte Leistung (§ 44 Abs 1 AO). Das FA kann die Leistung zwar nur einmal erheben (> Rz 96), es steht ihm aber im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung frei, die Leistung von jedem Gesamtschuldner ganz oder teilweise zu verlangen. Bis zur Entrichtung des ganzen Betrags bleiben alle Gesamtschuldner verpflichtet (§ 421 BGB). Von dieser Ermessensregelung ist nicht die Nachversteuerung beim ArbN durch das > Wohnsitz-Finanzamt im Rahmen einer Veranlagung betroffen (> Rz 72).
Rz. 96
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Die Erfüllung der Schuld, hinsichtlich der das Gesamtschuldverhältnis besteht, wirkt auch für die übrigen Schuldner (§ 44 Abs 2 Satz 1, 2 AO). Andere Tatsachen wirken zwar nur für und gegen den Gesamtschuldner, in dessen Person sie eintreten (§ 44 Abs 2 Satz 3 AO). Für das Haftungsverfahren hat dies jedoch nur geringe Bedeutung. Als Folge der Akzessorietät der Haftung (> Rz 16) kann ein Haftungsbescheid nämlich nicht mehr ergehen, soweit die in § 191 Abs 5 Nr 1 und 2 AO genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Rz. 97
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Der ArbG kann grundsätzlich gegen seine Gesamtschuldnerschaft einwenden, der ArbN sei schon bestandskräftig veranlagt worden und die für die Änderung des > Steuerbescheid nach § 173 Abs 1 Nr 1 AO erforderlichen Voraussetzungen lägen nicht vor (BFH 169, 208 = BStBl 1993 II, 169). Das setzt aber gedanklich voraus, dass der vom ArbG nicht dem LSt-Abzug unterworfene > Arbeitslohn bei der Veranlagung erfasst worden und darauf ESt erhoben worden ist. Dann ist der LSt-Anspruch und damit die dazu akzessorische Haftung gegenstandslos. Der ArbG, der gegen den Haftungsanspruch des FA einwendet, der ArbN habe mehr als den ihm bescheinigten Arbeitslohn in seiner > Steuererklärung angegeben, muss dies allerdings konkret dartun (BFH 167, 359 = BStBl 1992 II, 696).
Rz. 98
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Eine Gesamtschuldnerschaft besteht nicht, soweit die Haftung des ArbG ausgeschlossen ist (> Rz 55 ff); hier ist der ArbN Alleinschuldner der LSt. Gleiches gilt, soweit der ArbG die LSt nach §§ 37a/b, 40–40b EStG pauschaliert; dann ist der ArbG Alleinschuldner (> Pauschalierung der Lohnsteuer Rz 1 ff).
Rz. 99
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Obwohl ArbG und ArbN Gesamtschuldner sind, gelten für beide nicht immer die gleichen Rechtsgrundsätze. Aus der systematischen Gestaltung des LSt-Rechts ergeben sich Unterschiede hinsichtlich des Haftungsumfangs des ArbG und der Steuerschuld des ArbN (BFH 113, 157 = BStBl 1974 II, 756), die uE auch für die Abwägung von Bedeutung sein können, ob der ArbG im Rahmen der Ermessensausübung (> Rz 125 ff) vor dem ArbN in Anspruch genommen werden kann. Im Einzelnen handelt es sich um Folgendes:
2. Inanspruchnahme nach pflichtgemäßem Ermessen
a) Allgemeines
Rz. 100
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Soweit die Voraussetzungen der Haftung erfüllt sind (> Rz 33 ff, > Rz 55 ff), stellt es die in § 42d Abs 3 EStG normierte Gesamtschuldnerschaft von ArbG und ArbN (> Rz 95 ff) in das > Ermessen des > Betriebsstätten-Finanzamt, ob es den ArbG anstelle des ArbN (oder neben ihm) für die geschuldete LSt in Anspruch nehmen will (sog Auswahlermessen; im Einzelnen > Rz 125 ff). Das Gesetz überlässt dem FA also grundsätzlich die Auswahl zwischen mehreren denkbaren Entscheidungen, die jeweils mit dem Gesetzesbefehl in Einklang stehen (BFH 106, 489 = BStBl 1972 II, 919; vgl Kühn/von Wedelstädt/Bartone, § 5 AO Tz 6 f mwH). Zu einer weiteren Alternative > Rz 72.
Eine Ausnahme hiervon besteht jedoch bei der sog Ermessenseinengung (Ermessensschrumpfung auf null), wenn nämlich nur eine bestimmte Entscheidung möglich ist, während jede andere notwendigerweise zu einem Ermessensfehler führen müsste (vgl zB BFH 106, 268 = BStBl 1972 II, 806; BFH 134, 149 = BStBl 1981 II, 801; T/K/Drüen, § 5 AO Rz 76). Ob dies der Fall ist, prüft das FA im Rahmen des sog Entschließungsermessens.
Rz. 101
Stand: EL 126 – ET: 04/2021
Das FA hat also bei der Entscheidung über den Erlass eines Haftungsbescheids (§ 191 Abs 1 AO) ein Entschließungs- und ein Auswahlermessen. Die Ermessensentscheidung ist deshalb zweistufig (vgl BFH 125, 126 = BStBl 1978 II, 508; EFG 2011, 598). Das FA muss im Rahmen des Entschließungsermessens zunächst prüfen, ob der ArbG überhaupt in Haftung genommen werden kann oder ob seine Haftung wegen Unbilligkeit von vornherein ausgeschlossen ist (BFH 156, 73 = BStBl 1990 II, 363; > R 42d.1 Abs 4, 5 LStR; > Rz 105 ff). Ist danach eine Haftung zulässig, kann das > Betriebsstätten-Finanzamt die Haftungs- oder Steuerschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (Auswahlermessen; > Rz 125 ff) gegenüber jedem Gesamtschuldner (ArbG und ArbN; > Rz 95 ff) geltend machen (§ 42d Abs 3 Satz 2 EStG).
Rz. 102
Stand: E...