Zufluss von Arbeitslohn bei Wertguthaben
Hintergrund: Gesetzliche Regelung
Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten und gemäß § 41a Abs. 1 Satz 1 an das Finanzamt abzuführen hat. In den Fällen der nach § 7f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB IV an die DRV Bund übertragenen Wertguthaben treffen die DRV Bund bei Inanspruchnahme des Wertguthabens die Pflichten des Arbeitgebers (§ 38 Abs. 3 Satz 3 EStG).
Für den Zufluss von Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit verweist § 11 Abs. 1 Satz 4 EStG auf § 38a Abs. 1 Satz 2 und 3 EStG. Arbeitslohn, der nicht als laufender Arbeitslohn gezahlt wird (sonstige Bezüge), wird gemäß § 38a Abs. 1 Satz 3 EStG in dem Kalenderjahr bezogen, in dem er dem Arbeitnehmer zufließt. Nur tatsächlich zugeflossener Arbeitslohn unterliegt der Einkommensteuer und dem Lohnsteuerabzug.
Sachverhalt: Klägerin wehrt sich gegen ihre Inanspruchnahme als Lohnsteuer-Haftungsschuldnerin
Mit Betriebsvereinbarung vom 10.12.2010 räumte die Klägerin ihren Mitarbeitern die Möglichkeit der Bildung von Langzeitkonten ein. Die Ansparmöglichkeiten wurden mit weiterer Betriebsvereinbarung vom 13.4.2011 erweitert. Die Klägerin verpflichtete sich, die angesparten Geldbeträge in einer aufgeschobenen Rentenversicherung (Gruppenversicherung) mit stufenweisem Aufbau der Versicherungsleistung gegen laufende Beiträge in variabler Höhe bei der X-Versicherung AG anzulegen. Nach § 5 der Vereinbarung vom 13.4.2011 konnten die Mitarbeiter die Langzeitkonten nur dazu nutzen, um eine vollständige oder teilweise Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung vor der Inanspruchnahme von gesetzlicher Altersrente zu ermöglichen. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Störfall) sollte das Guthaben grundsätzlich in einem Betrag ausgezahlt oder ohne Abzug von Lohnsteuer unter den Voraussetzungen von § 7f SGB IV (Wechsel des Arbeitgebers) auf den neuen Arbeitgeber oder die DRV Bund übertragen werden.
Im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen schloss die Klägerin mit ihrem Betriebsrat am 19.4.2012 mehrere aufeinander aufbauende Rahmenvereinbarungen ab. Mitarbeitern im Außendienst, die aus dem Unternehmen ausscheiden, wurden "Freiwilligen-Abfindungen" angeboten.
Im Sozialplan war unter anderem bestimmt, dass der Abfindungsanspruch mit dem Zugang der Kündigung oder mit dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags entstehe und mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig werde. Nach § 11 des Sozialplans konnte der Mitarbeiter seine Abfindung in das Langzeitkonto einbringen. Für diesen Fall bestimmte der Sozialplan, dass die Abfindung in Arbeitsentgeltguthaben und Arbeitgebersozialversicherungsguthaben gesplittet werde.
Vier Mitarbeiter beantragten vor Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse – die Arbeitsverhältnisse endeten alle in 2012 –, die Abfindungszahlung ihrem Langzeitguthaben zuzuführen und dieses Guthaben nach Beendigung ihrer Beschäftigung auf die DRV Bund zu übertragen. Diese bestätigte die Übertragung der Langzeitguthaben im Jahr 2013.
Die Klägerin unterwarf die dem Langzeitkonto gutgebrachten Abfindungsanteile nicht der Lohnsteuer.
Das Finanzamt vertrat die Auffassung, die an die DRV Bund gezahlten Abfindungsbeträge seien zu Unrecht nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden. Sie hätten nach Beendigung der Arbeitsverhältnisse nicht mehr wirksam dem Langzeitkonto zugeführt werden können. Voraussetzung dafür sei, dass die zugeführten Beträge durch Freistellung in demselben Arbeitsverhältnis noch vollständig aufgebraucht werden könnten. Daran fehle es nach Beendigung der Arbeitsverträge. Deshalb sei auch eine steuerfreie Übertragung auf die DRV Bund ausgeschlossen gewesen. Vielmehr seien die Abfindungen den jeweiligen Arbeitnehmern bei Fälligkeit in 2012 zugeflossen. Es erließ einen Haftungsbescheid nach § 42d Abs. 1 EStG, mit dem es die Klägerin in Anspruch nahm.
Das FG folgte der Auffassung des Finanzamts und wies die Klage ab.
Entscheidung: BFH gibt der Klägerin Recht
Der BFH hat entschieden, dass die Lohnsteuer nicht entstanden ist, und eine (akzessorische) Haftung der Klägerin nicht in Betracht kommt.
Die Abfindungen aus Anlass der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses sind lohnsteuerrechtlich Arbeitslohn (sonstige Bezüge).
Noch kein Zufluss bei Gutschriften auf einem Wertguthabenkonto
Arbeitslohn ist mit der Erlangung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht zugeflossen. Zuflusszeitpunkt ist der Tag der Erfüllung des Anspruchs des Arbeitnehmers, also der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die geschuldete Leistung tatsächlich erbringt.
Gutschriften auf einem Wertguthabenkonto sind noch kein gegenwärtig zufließender Arbeitslohn. Der Anspruch des Arbeitnehmers wird hierdurch nicht erfüllt. Auch der Abschluss der Vereinbarung über die Zuführung von Lohnbestandteilen zu einem Wertguthabenkonto führt nicht zum Zufluss.
Ein Zufluss liegt erst vor, wenn das Wertguthaben unter den vereinbarten Bedingungen an den Arbeitnehmer ausgezahlt wird. Dies gilt auch, wenn das Guthaben gem. § 7f Abs. 1 Satz 2 SGB IV auf die DRV Bund übertragen worden ist. Die Arbeitgeberpflichten treffen die DRV Bund, sobald das Wertguthaben in Anspruch genommen wird (§ 38 Abs. 3 Satz 3 EStG).
Auch kein Zufluss, bei möglicherweise unwirksamer Übertragung des Wertguthabens
Im Ausgangspunkt bestand kein Streit zwischen den Beteiligten, dass es sich bei den von der Klägerin für ihre Angestellten eingerichteten Langzeitkonten um steuerlich anzuerkennende Wertguthabenkonten gehandelt habe.
Der BFH ließ offen, ob die streitgegenständlichen Abfindungen den Langzeitkonten wirksam zugeführt werden konnten. Wäre dies so, wäre der Zufluss beim Arbeitnehmer zu verneinen.
Nichts anderes ergibt sich bei Anwendung der allgemeinen Voraussetzungen, unter denen die Rechtsprechung den Zufluss von Arbeitslohn bejaht, wenn man davon ausgeht, dass Abfindungszahlungen, die als Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes gezahlt werden, das Wertguthabenkonto nicht hätten erhöhen dürfen und die zugrunde liegenden Vereinbarungen unwirksam waren.
Der BFH führt aus, dass es nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AO steuerlich auch nicht darauf ankommt, ob ein Rechtsgeschäft wirksam werde, soweit und solange die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis gleichwohl eintreten und bestehen lassen.
Direkte Überweisung an DRV Bund war unerheblich
Dass die Abfindungen nicht mehr dem Gruppenversicherungskonto bei der X-Versicherung AG zugeführt, sondern direkt an die DRV Bund überwiesen wurden, ist unbeachtlich, da es sich hierbei lediglich um eine Abkürzung des Zahlungswegs handelt.
Keine Lohnverwendungsabrede
Die Arbeitnehmer konnten im Urteilsfall jedenfalls nicht über die Abfindungsbeträge verfügen. Insbesondere lagen die Voraussetzungen, unter denen sie Leistungen aus dem Langzeitkonto in Anspruch nehmen konnten, nicht vor. Eine zu einem Zufluss führende Lohnverwendungsabrede lag weder in der Anweisung, den Abfindungsanspruch dem Langzeitkonto zuzuführen noch in dem Antrag auf Übertragung des Langzeitkontos auf die DRV Bund.
Hinweis: „Mannheimer Modell“
Das „Mannheimer Modell“ zielt darauf ab, rentennahen Mitarbeitern unter Nutzung der im Sozialversicherungsrecht vorgesehenen Instrumente in Form von Ausgleichszahlungen und Übertragung von Wertguthaben an die Deutsche Rentenversicherung eine Brücke vom Unternehmensaustritt in den Renteneintritt zu bauen.
Die von der Vorinstanz angestellten Erwägungen zur Frage, ob die Abfindungen den Langzeitkonten überhaupt wirksam zugeführt und ob die Langzeitkonten wirksam auf die DRV Bund übertragen werden konnten (sog. Mannheimer Modell, vgl. dazu u.a. Wellisch/Meurs, Der Betrieb 2022, 1984; Däubler/Growe/Söhngen, Betriebs-Berater BB 2021, 2036; Schönhöft/Röpke, BB 2022, 793; Schönhöft, BB 2021, 1332; Growe/Tretow, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 2020, 1080), tragen nach der Entscheidung des BFH, selbst wenn sie zuträfen, nicht den Schluss, dass den Arbeitnehmern die Abfindungen im maßgeblichen Zeitraum zugeflossen sind.
BFH Urteil vom 03.05.2023 - IX R 25/21 (veröffentlicht am 17.08.2023)
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