Leitsatz
Das FA kann eine nach § 165 Abs. 1 AO vorläufige Steuerfestsetzung nach Ablauf der Frist des § 171 Abs. 8 AO nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ändern, wenn das die Ungewissheit beseitigende Ereignis (§ 165 Abs. 2 AO) zugleich steuerrechtlich zurückwirkt.
Normenkette
§ 165, § 171 Abs. 8, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO
Sachverhalt
Die Klägerin wurde mit ihrem verstorbenen und von ihr und den gemeinsamen (ebenfalls klagenden) Söhnen beerbten Ehemann zusammen zur ESt veranlagt. Die Ehegatten machten im Zusammenhang mit einem erworbenen Erbbaurecht in den Kalenderjahren 1994 bis 1999 Vorkosten (Schuldzinsen, Erbbauzinsen, Grundsteuer) nach § 10e Abs. 6 EStG geltend, die das FA anerkannte. Alle Bescheide ergingen teilweise vorläufig gem. § 165 Abs. 1 AO "hinsichtlich der Schuldzinsen und anderer Aufwendungen i.S.d. § 10e Abs. 6 EStG, weil die Wohnung noch nicht zu eigenen Wohnzwecken genutzt wird".
Mit notariell beurkundetem Vertrag wurde das Erbbaurecht 2001 aufgehoben und das Grundstück zurückgegeben. Mit Änderungsbescheiden vom 10.12.2003 versagte das FA daraufhin den Vorkostenabzug; es stützte die Änderungsbescheide auf § 165 Abs. 2 AO und erklärte sie nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO (in diesem Punkt) für endgültig.
Die dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte Erfolg (EFG 2006, 1394). Nach Auffassung des FG kann sich das FA wegen Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 8 AO nicht auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO – mit der Folge der Anlaufhemmung des § 175 Abs. 1 Satz 2 AO – berufen; dies folge aus dem Einleitungssatz des § 172 Abs. 1 Satz 1 AO, nach dem die §§ 172 ff. AO nicht gälten, soweit ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig ergangen sei. Hiergegen richtet sich die Revision des FA.
Entscheidung
Nach Auffassung des BFH hat das FG die Änderungsbefugnis des FA nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu Unrecht verneint. Wegen des – unstreitig gegebenen – rückwirkenden Ereignisses sei das FA nach dieser Vorschrift zur Änderung verpflichtet gewesen. Insoweit käme der Änderungsmöglichkeit nach § 165 Abs. 2 AO, deren Anwendung im Streitfall wegen Eintritts der Bestandskraft des Bescheids (Ablauf der in § 171 Abs. 8 AO geregelten Festsetzungsfrist) nicht möglich sei, kein Vorrang zu.
Es bestehe auch kein sachlicher Grund, warum das FA nicht wegen eines rückwirkenden Ereignisses ändern können solle, nur weil es – zusätzlich – den Bescheid vorläufig erlassen habe. Nutze es die Berichtigungsmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO nicht, setze es keinen Vertrauenstatbestand, der es hindern würde, auch wegen des zugleich bestehenden rückwirkenden Ereignisses zu ändern.
Hinweis
1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ein solches Ereignis ist auch gegeben, wenn es – wie im Streitfall – nach Inanspruchnahme des Vorkostenabzugs für eine zur Eigennutzung bestimmte Wohnung nicht zu einer Eigennutzung kommt. Die dementsprechende rückwirkende Streichung des Vorkostenabzugs nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (BFH, Urteil vom 1.10.2003, X R 67/01, BFH/NV 2004, 154, m.w.N.) ist selbst dann möglich, wenn die ESt für die Streitjahre vorläufig festgesetzt war und die deshalb gleichermaßen mögliche Korrektur des Vorkostenabzugs nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO wegen der nur einjährigen Ablaufhemmung des § 171 Abs. 8 AO nicht mehr in Betracht kommt.
2. Die BFH-Rechtsprechung ist allerdings in der Vergangenheit von der Unanwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ausgegangen, wenn die Steuerfestsetzung vorläufig erlassen worden war (vgl. BFH, Urteile vom 1.10.2003, X R 67/01, BFH/NV 2004, 154; vom 17.3.1994, V R 123/91, BFH/NV 1995, 274; Beschluss vom 4.11.1998, IV B 146/97, BFH/NV 1999, 589). Gleichwohl konnte der erkennende Senat trotz der von ihm bejahten Anwendbarkeit des § 175 AO eine Abweichung i.S.d. § 11 Abs. 2 FGO von diesen Entscheidungen verneinen, weil sich die Korrekturen in den Entscheidungen des V. und des IV. Senats anders als im Streitfall auf Bescheide über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung bezogen, die wie erstmalige Steuerfestsetzungen wirken (§ 164 Abs. 3 Satz 2 AO); das Urteil des X. Senats enthält insoweit nur ein obiter dictum. Wie der erkennende Senat geht auch der VIII. Senat (Urteil vom 19.8.2003, VIII R 67/02, BFH-PR 2004, 83) davon aus, dass ein rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ebenfalls bei vorläufigen Bescheiden zu berücksichtigen ist.
3. Wenn es in § 172 Abs. 1 AO heißt, "ein Steuerbescheid darf, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder geändert werden", soweit dies sonst gesetzlich zugelassen ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO), so enthält dieser Satz schon nach seinem Wortlauf keine Aussage zu vorläufigen Steuerfestsetzungen, sondern regelt die Korrekturbefugnis nur bei Steuerbescheiden, soweit sie nicht vorläufig ergangen sind (a...