Leitsatz
Nach Sinn und Zweck der für bestimmte Lithium-Ionen-Akkumulatoren gewährten Zollaussetzung, spricht nichts dafür, dass der festgelegte Mindestdurchmesser von 18,1 mm im Fall einer Zollbeschau mit Messinstrumenten zu prüfen ist, die im visuell nicht mehr wahrnehmbaren Bereich eines 1/100 mm oder gar eines 1/1000 mm zu messen imstande sind, und dass ein Akkumulator, dessen Maße im vorgenannten Bereich von der Vorgabe abweichen, nicht mehr dem Typ von Akkumulator entspricht, für den die Zollaussetzung vorgesehen ist.
Normenkette
VO (EG) Nr. 1255/96; ZK Art. 220
Sachverhalt
Zoll für bestimmte Akkumulatoren zum Herstellen wieder aufladbarer Batterien (Taric-Code 8597 80 30 30) "mit einem Durchmesser von 18,1 mm oder mehr" war durch die Verordnung (EG) Nr. 1255/96 i.d.F. der Verordnung Nr. 1897/2006 zeitweise ausgesetzt. Ein Unternehmen hatte Waren mit diesem Code angemeldet. Eine Untersuchung der bei der Abfertigung gezogenen Rückstellprobe ergab, dass die Akkumulatoren einen gemittelten Durchmesser von nur 18,08 bzw. 18,06 mm hatten. Das HZA erhob daher Zoll nach.
Entscheidung
Der BFH hat das klageabweisende Urteil des FG (FG Hamburg, Urteil vom 18.12.2009, 4 K 202/08, Haufe-Index 2318886) aufgehoben. Die Voraussetzungen der Zollaussetzungsvorschrift seien erfüllt, obwohl die ermittelte Größe der Akkumulatoren der verordnungsrechtlich festgesetzten Mindestgröße nicht entspreche.
Hinweis
Das Verständnis von Rechtsvorschriften erfordert – wie das jeder sprachlichen Äußerung – zumeist sinndeutendes Auslegen. Davon schien es bisher Ausnahmen zu geben, wenn Rechtsvorschriften gleichsam mit mathematischer Präzision formuliert sind, nämlich in Maßeinheiten ausgedrückte Grenz- oder Mindestwerte, feste Termine ("bis 24 Uhr") oder dergleichen angeben. Um 0:01 Uhr wird eine solche Frist eben nicht gewahrt, bei einer noch so geringfügigen Unterschreitung der Grenzwert in rechtserheblicher Weise verfehlt, sodass die betreffende Vorschrift nicht angewandt werden kann. Daran kann eine "Auslegung" der Vorschrift gemeinhin nichts ändern, weil solche Wertangaben nicht auslegungsfähig sind. Das gilt im Allgemeinen auch dann, wenn keine irgendwie erwägenswerten Belange erkennbar sind, welche durch eine solche geringfügige Abweichung Schaden nehmen könnten.
Doch siehe da: Diese Vorstellung, durch die Benennung eines mathematischen Werts sei der Rechtsanwendung ein sicherer Halt gegeben, bedarf nach dieser Entscheidung des BFH der Differenzierung. Denn danach ist eine Unterschreitung des in der Zollaussetzungsvorschrift angegebenen Mindestwerts ohne Bedeutung, wenn nur die Ware einem bestimmten "Typ" von Akkumulator entspricht, der, wovon der BFH "ausgeht", den Wirtschaftsbeteiligten vorgeschwebt hat, als sie durch eine entsprechende Eingabe die Zollaussetzung anregten!
Wie dieser "Typ" genau beschaffen ist, warum man zu seiner Beschreibung nicht schlicht einen entsprechenden Typbegriff statt einer numerischen Angabe verwendet hat und woher der BFH fundierte Erkenntnisse dazu hat, dass dieser Typ und nicht ein Akkumulator einer bestimmten (Mindest-)Größe gemeint ist, führt das Urteil nicht näher aus, es sei denn, man lässt als Begründung dafür gelten, dass die Mindestgröße in der Verordnung ohne zweite und dritte Dezimalstelle bezeichnet ist.
All das wäre als eine Frage des Einzelfalls nicht erwähnenswert, wenn nicht das vom BFH gleichsam als Obersatz vorangestellte Zitat aus der Rechtsprechung des EuGH, in diesem Zusammenhang gebraucht, das Missverständnis provozieren könnte, die äußerste Grenze zulässiger Auslegung, nämlich der Wortlaut des Gesetzes, könne wegen der (mehr oder weniger gemutmaßten) "allgemeinen Systematik" und des "Zweckes" der Vorschrift ohne Weiteres überschritten werden. Ob eine "festgestellte Abweichung" der Ware von den vom Verordnungsgeber genannten Grenzwerten "Einfluss auf die Funktion der Ware" hat, muss in erster Linie der Verordnungsgeber, nicht das Gericht beurteilen. Man fragt sich deshalb, ob dass mit diesen Worten zitierte Urteil des EuGH, das einen deutlich anders gelagerten Fall betrifft, irgendetwas dafür hergibt, dass weniger als 18,1 gleich 18,1 ist.
Der Wortlaut des Unionsrechts schafft (schon wegen, aber leider keineswegs nur wegen der Sprachenvielfalt) mitunter keine Klarheit, was der Verordnungsgeber genau regeln will. Aber nur wo er das zweifelhaft erscheinen lässt, wird eine rechtsstaatliche Praxis auf den häufig für den Rechtsunterworfenen (gerade im Unionsrecht) kaum sicher feststellbaren "Zweck" der Regelung zurückgreifen wollen, jedenfalls dann nicht, wenn sich dieser nicht aus den Erwägungsgründen oder der objektiv nachvollziehbaren, dokumentierten Entstehungsgeschichte der Vorschrift einigermaßen deutlich ergibt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 02.11.2010, VII R 7/10