(BFH v. 17.5.2022 – VIII R 14/18, DStR 2022, 1654 = GmbHR 2022, 1153 = GmbH-StB 2022, 302 [Görden])
Beispiel
Die Gesellschafterversammlung der GmbH beschließt eine Ausschüttung aus der Kapitalrücklage i.H.v. 5 Mio. EUR am 27.7.2010. Am 28.7.2010 wird der Betrag an die Gesellschafter ausgezahlt. Ein ausschüttbarer Gewinn der GmbH i.S.d. Verwendungsreihenfolge nach § 27 Abs. 1 S. 3-5 KStG zum 31.12.2009 ist nicht vorhanden. Das Einlagekonto ist hoch genug. Eine Kapitalertragsteueranmeldung wird nicht abgegeben, da alle Beteiligten davon ausgehen, dass Kapitalertragsteuer nicht entsteht. Im Rahmen der Feststellungserklärung zum Einlagekonto auf den 31.12.2010 wird ein Abgang aus dem Einlagekonto nicht erklärt. Eine Bescheinigung wird bis zur erstmaligen Bekanntgabe des Feststellungsbescheids nach § 27 KStG auf den 31.12.2010 nicht ausgestellt. Das FA erlässt einen Nacherhebungsbescheid, mit dem die Auskehrung aus der Kapitalrücklage der Kapitalertragsteuer nebst Solidaritätszuschlag unterworfen wird.
a) Strenge BFH-Rechtsprechung zur Notwendigkeit der Einhaltung sämtlicher formaler Voraussetzungen des § 27 KStG
Die Rechtsprechung des BFH zur Notwendigkeit der Einhaltung sämtlicher formaler Voraussetzungen des § 27 KStG, um von einer nicht steuerbaren Auskehrung aus dem Einlagenkonto ausgehen zu können, ist bekanntlich streng.
Die Entscheidung des BFH vom 17.5.2022 bestätigt dies:
- Die Feststellung des Einlagekontos auf der Ebene der Gesellschaft ist zwar kein Grundlagenbescheid für die Besteuerung für den Einkommensteuerbescheid der Gesellschafter. Es besteht jedoch eine materiell-rechtliche Bindung. Die Gesellschafter können auf ihrer Ebene nicht mehr darum streiten, dass eine Auskehrung aus dem Einlagekonto gegeben ist, wenn diese i.R.d. Feststellung nach § 27 KStG nicht verarbeitet wurde.
- Die Fiktion nach § 27 Abs. 5 S. 2 KStG überlagert eine materiell-rechtliche Prüfung auf der Ebene des Gesellschafters. Wurde keine Bescheinigung über eine Auskehrung aus dem Einlagekonto seitens der Gesellschaft ausgestellt, wird diese mit 0 EUR fingiert. Eine Bescheinigung muss den Gesellschaftern erteilt sein bis zur erstmaligen Bekanntgabe der Feststellung des Einlagekontos zum Schluss des Wirtschaftsjahres der fraglichen Auskehrung. Auf Bestandskraft kommt es nicht an.
- Die materiell-rechtliche Bindung der Null-Fiktion wirkt auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Ausschüttung zurück. Die Fiktion gilt nicht erst ab Bekanntgabe des Feststellungsbescheids über das Einlagekonto zum Schluss des Jahres der Auskehrung.
- Gemäß § 44 Abs. 1 S. 2 EStG entsteht die Kapitalertragsteuer für Gewinnausschüttungen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Kapitalertrag dem Gläubiger (Gesellschafter) zufließt. Die Kapitalerträge fließen den Gesellschaftern an dem Tag zu, der im Beschluss als Tag der Auszahlung bestimmt ist (§ 44 Abs. 3 S. 1 EStG). Ist kein Zeitpunkt festgesetzt, wird der Tag nach der Beschlussfassung zugrunde gelegt (§ 44 Abs. 2 S. 2 Halbs. 1 EStG).
b) Wahlrecht der Finanzbehörde zur Inanspruchnahme der Gesellschaft
Der Finanzbehörde steht nach § 167 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AO ein Wahlrecht zu, die Gesellschaft
in Anspruch zu nehmen.
Nacherhebung verlangt Verletzung der Anmeldepflicht: Die Nacherhebung nach § 167 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AO verlangt, dass der Entrichtungspflichtige (die Gesellschaft) seine Anmeldepflicht verletzt. Die Anmeldepflicht wird verletzt, wenn die Bescheinigung über die Auskehrung aus dem Einlagekonto nicht erteilt und am Kapitalertragsteuerabzug nicht erklärt wird:
- Die Pflichtverletzung ist auch schuldhaft. Zwar liegt im Zeitpunkt der Ausschüttung noch kein Verschulden vor. Zu diesem Zeitpunkt muss die Bescheinigung noch nicht erteilt sein. Materiell-rechtlich handelt es sich um eine Auskehrung aus dem Einlagekonto. Das Einlagekonto war ausreichend hoch genug und zum Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres gab es keinen ausschüttbaren Gewinn.
- Nach Auffassung des BFH ist es jedoch grob fahrlässig, wenn i.R.d. Feststellung das Einlagekonto bzw. die Abgänge daraus weder sorgsam geprüft werden noch eine ordnungsgemäße Bescheinigung erteilt wird.
- So mag die kapitalertragsteuerliche Beurteilung im Ausschüttungszeitpunkt zutreffend gewesen sein. Diese hätte im Nachgang i.R.d. Erklärung des steuerlichen Anlagekontos und der Frage, ob eine Bescheinigung zu erteilen ist, entsprechend überprüft werden müssen.