Leitsatz
1. Wird der Gewerbesteuermessbescheid aufgrund eines Rechtsbehelfs aufgehoben, weil der Steuerpflichtige eine selbstständige Tätigkeit i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ausübt, ist das FA nach § 174 Abs. 4 AO im Grundsatz berechtigt, den Einkommensteuerbescheid durch Versagung der Tarifbegrenzung gemäß § 32c EStG a.F. zu ändern.
2. In diesem Fall beruhen beide steuerlichen Folgerungen – sowohl die Aufhebung des Gewerbesteuermessbescheids als auch die Versagung der Tarifbegrenzung nach § 32c EStG a.F. – auf der rechtlichen Qualifikation der vom Steuerpflichtigen ausgeübten Tätigkeit und damit auf dem gleichen "bestimmten Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO.
3. Weder der Gewerbesteuermessbescheid noch der Gewerbesteuerbescheid sind Grundlagenbescheide für die Tarifbegrenzung nach § 32c EStG a.F.
Normenkette
§ 174 Abs. 4 Sätze 1 bis 4, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, § 15 Abs. 2 Satz 1, § 35 EStG, § 32c EStG a.F., § 2 Abs. 1, § 7 GewStG
Sachverhalt
Der Kläger ist Rechtsanwalt und vorwiegend als Insolvenzverwalter tätig. Er ist Inhaber einer Einzelkanzlei mit mehreren Zweigstellen und beschäftigt mehrere Rechtsanwälte, einen Ingenieurökonomen sowie Fach- und Hilfskräfte. Die Einkünfte daraus erklärte er als Einkünfte aus selbstständiger Arbeit.
Nach einer Außenprüfung nahm das FA gewerbliche Einkünfte an und erließ erstmals Gewerbesteuermessbetragsbescheide für 1998 bis 2000. Zugleich ergingen geänderte Einkommensteuerbescheide für 1998 bis 2000, in denen die Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte gemäß § 32c EStG a.F. gewährt wurde, die sich für 1998 auf ca. 110.000 DM, für 1999 auf 265.000 DM und für 2000 auf ca. 194.000 DM belief.
Nachdem Einspruch und Klage gegen die Gewerbesteuermessbetragsbescheide erfolglos geblieben waren, gab der BFH der Revision aufgrund der Aufgabe der Vervielfältigungstheorie bei § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG statt (BFH, Urteil vom 15.12.2010, VIII R 13/10, BFH/NV 2011, 1309) und hob sie auf.
Im Juni 2011 ergingen nach § 174 Abs. 4 AO geänderte Einkommensteuerbescheide für 1998 bis 2000, in denen die Insolvenzverwaltertätigkeit wieder als selbstständige Arbeit erfasst und die zuvor gewährte Tarifbegrenzung versagt wurde. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg (FG Düsseldorf, Urteil vom 13.3.2014, 14 K 3588/11 E, Haufe-Index 6791702, EFG 2014, 1360).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück.
Hinweis
Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden.
1. Eine irrige Beurteilung liegt vor, wenn sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist.
Unerheblich ist dabei, ob der Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat. Im Streitfall waren Gewerbesteuermessbescheide aufgrund der irrigen Rechtsansicht ergangen, die Tätigkeit des Klägers als Insolvenzverwalter sei wegen der Beschäftigung fachlich vorgebildeter Angestellter als gewerblich zu qualifizieren; tatsächlich handelte es sich um Einkünfte aus sonstiger selbstständiger Arbeit (§ 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG).
2. Unter einem bestimmten Sachverhalt ist der Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Damit ist nicht nur eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal gemeint, sondern der einheitliche, für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Für die Frage, ob der Kläger ein gewerbesteuerpflichtiges Unternehmen unterhalten hat, war daher auf seine gesamte Tätigkeit als Insolvenzverwalter abzustellen; die Beschäftigung qualifizierter Angestellter war hingegen nur ein einzelnes steuererhebliches Merkmal. Sowohl § 32c Abs. 2 EStG a.F. als auch das Vorliegen eines gewerbesteuerpflichtigen Einzelunternehmens i.S.d. § 2 Abs. 1 GewStG setzen die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit i.S.d. § 15 EStG (= "bestimmter Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO) voraus. Der Kläger drang daher nicht mit seiner Auffassung durch, die Anzahl der qualifizierten Mitarbeiter sei kein Tatbestandsmerkmal des § 32c EStG a.F.; die dort maßgebliche Gewerblichkeit ergebe sich erst aus einer Reihe weiterer Sachverhaltselemente.
3. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden.
4. Mit Wirkung ab 2001 hat § 35 EStG den hier maßgeblichen § 32c EStG a.F. ersetzt. Die auf gewerbliche Einkünfte entfallende Einkommensteuer wird nunmehr durch pauschalierte Anrechnung der Gewerbesteuer ermäßigt. Dazu werden in § 35 Abs. 3 Sätze 2 und 3 EStG verschiedene Bescheide zu Grundlagenbescheiden bestimmt, sodass die Steuerermäßigung auch nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO korrigiert werden kann. Hieraus lässt sich j...