Prof. Dr. Hans-Friedrich Lange
Leitsatz
Die Entscheidung des FA darüber, ob im Fall einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid nach § 174 Abs. 4 AO nachträglich geändert wird, ist keine Ermessensentscheidung.
Normenkette
§ 174 Abs. 4 AO, § 102 FGO, § 1 Abs. 1a, § 14 Abs. 2, § 15 Abs. 1, § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG 1993
Sachverhalt
Die Klägerin erwarb mit Wirkung zum 1.1.1995 einen Café-Betrieb mit sämtlichen in den Pachträumen befindlichen Inventargütern zu einem Gesamtkaufpreis von 400.000 DM. Die in der Rechnung des Verkäufers ausgewiesene Umsatzsteuer (60.000 DM) machte die Klägerin in ihrer Umsatzsteuererklärung für 1995 erfolgreich als Vorsteuer geltend.
1997 "stornierte" der Verkäufer seine Rechnung "in vollem Umfang" unter Hinweis darauf, er habe nur einen Betrag von 170.000 DM in bar erhalten. Außerdem wies er darauf hin, dass für den Verkauf keine Umsatzsteuer angefallen sei.
Das FA vertrat daraufhin die Auffassung, der geltend gemachte Vorsteuerbetrag aus dem Verkauf hätte nicht berücksichtigt werden dürfen, weil es sich um eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung gehandelt habe. Die Vorsteuer sei im Jahr der Rechnungsberichtigung zu korrigieren, sodass der Umsatzsteuerbescheid für 1997 entsprechend zu berichtigen sei.
In dem sich anschließenden Rechtsstreit entschied der BFH, dass der Klägerin zwar kein Vorsteuerabzug zustehe, weil über eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung i.S.d. § 1 Abs. 1a UStG abgerechnet worden sei. Eine Vorsteuerkorrektur im Jahre 1997 sei aber nicht möglich. Es komme nur eine Änderung des Steuerbescheides des Abzugsjahres 1995, in dem die Vorsteuer zu Unrecht berücksichtigt wurde, in Betracht (Urteil vom 6.12.2007, V R 3/06, Haufe-Index 1968985, BFH/NV 2008, 1075).
Daraufhin änderte das FA nunmehr den Umsatzsteuerbescheid für 1995 gem. § 174 Abs. 4 AO zulasten der Klägerin und korrigierte darin den Vorsteuerabzug.
Das FG wies die Klage ab (FG Düsseldorf, Urteil vom 5.2.2010, 1 K 2823/09 U, Haufe-Index 2316360, EFG 2010, 935).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Er bejahte das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO und trat der Ansicht der Klägerin entgegen, das FG-Urteil sei (auch) deshalb rechtswidrig, weil das FG sich nicht mit den fehlenden Ermessenserwägungen des FA in dem Änderungsbescheid für 1995 bzw. in der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung auseinandergesetzt habe.
Denn bei der Entscheidung darüber, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO durchgeführt werde, handele es sich – trotz des Wortlauts des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ("können" die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden) – nicht um eine Ermessensentscheidung, die vom FG nach § 102 FGO zu überprüfen wäre. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Zweck der Vorschrift.
Hinweis
Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt gem. § 174 Abs. 4 Satz 2 AO auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO).
Die Regelung bezweckt den Ausgleich einer zugunsten des Steuerpflichtigen eingetretenen Änderung. Derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen. Wie der Große Senat des BFH entschieden hat, regelt die Vorschrift die verfahrensrechtlichen (inhaltlichen) Folgerungen aus einer vorherigen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides auf Antrag des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten. Diese Aufhebung oder Änderung löst dann "nachträglich" die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift bezieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine "widerstreitende Steuerfestsetzung" enthält, wie sie das Gesetz nach seiner amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.3.2012 – XI R 2/10