Dipl.-Finanzwirt Karl-Heinz Günther
Leitsatz
Geht das Finanzamt fälschlicherweise davon aus, dass die Uneinbringlichkeit einer Forderung bereits ein Jahr vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgelegen hat, ist es berechtigt, nach § 174 Abs. 4 AO die richtigen Rechtsfolgen im Jahr der Insolvenzeröffnung zu ziehen.
Sachverhalt
Der Steuerpflichtige betrieb in den Jahren 1998 und 1999 einen Handel mit Dienstleistungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung. Aus dieser Tätigkeit wurden ihm von seinem Lieferanten im Jahr 1998 Eingangsleistungen mit einer offen ausgewiesenen Umsatzsteuer in Rechnung gestellt. Aufgrund zu diesem Zeitpunkt bereits bestehender finanzieller Schwierigkeiten gelang es dem Steuerpflichtigen nicht, den Großteil dieser Eingangsrechnungen fristgerecht zu begleichen. Am 19.10.1999 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Steuerpflichtigen eröffnet. Im Rahmen der Umsatzsteuererklärungen 1998 und 1999 brachte der Steuerpflichtige Vorsteuern aus den Eingangsrechnungen in Abzug. Das Finanzamt berücksichtigte im Umsatzsteuerbescheid 1998 die geltend gemachten Vorsteuerbeträge teilweise nicht, weil es von einer Uneinbringlichkeit des geschuldeten Entgelts ausgegangen war. Hiergegen legte der Steuerpflichtige Einspruch ein und machte mit Erfolg geltend, dass die Uneinbringlichkeit des Entgelts erst 1999 eingetreten sei. Daraufhin änderte das Finanzamt den vorbehaltlos ergangenen Umsatzsteuerbescheid 1999 nach § 172 AO.
Entscheidung
Das FG wies die gegen die Einspruchsentscheidung eingelegte Klage ab und entschied, dass die Änderung des Umsatzsteuerbescheids 1999 dem Grunde nach rechtmäßig sei, jedoch nicht auf § 172 AO gestützt werden kann. Vielmehr lagen im Streitfall die Voraussetzungen für eine Änderung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vor, da der Umsatzsteuerbescheid 1998 auf Grund irriger Beurteilung des Zeitpunkts der Uneinbringlichkeit des Entgelts ergangen war, wegen des Einspruchs zugunsten des Steuerpflichtigen geändert wurde und nun das Finanzamt berechtigt war, durch Änderung des Umsatzsteuerbescheids 1999 die richtigen steuerrechtlichen Folgerungen aus der Sachverhaltsbeurteilung zu ziehen. Der Umstand, dass das Finanzamt die Bescheidänderung auf eine falsche Änderungsnorm gestützt hatte, stand der Bescheidänderung nicht entgegen (unrichtige Bezeichnung schadet nicht).
Hinweis
Die Änderungsmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO (im Streitfall bezüglich des Umsatzsteuerbescheids 1999) ist nicht von der vorherigen, zeitlich vorangehenden Änderung des zunächst angefochtenen Bescheids (Umsatzsteuer 1998) abhängig. Das Gericht schließt vielmehr aus der Formulierung der gesetzlichen Regelung auf das Gegenteil, da die richtigen steuerlichen Folgerungen nachträglich gezogen werden "können", wenn der aufgrund irriger Annahmen ergangene Bescheid "aufgehoben oder geändert wird". Zwischen der Änderung des aufgrund irriger Annahmen ergangenen Bescheids und der Änderung des widerstreitenden Bescheids muss daher kein längerer Zeitraum als eine logische Sekunde liegen.
Link zur Entscheidung
FG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2011, 1 K 2985/09