Die Bedeutsamkeit des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO für die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 14 AO zeigt sich dabei zunächst in Konstellationen, in denen eine nachträgliche Änderung des bisherigen Steuerbescheids zu Lasten des Steuerpflichtigen erfolgt, er also nachträglich zusätzlich Steuern zu entrichten hat. Ist der neu erlassene Steuerbescheid (oder die nachträgliche Abänderung) unwirksam, so stellt dies den vom Gesetzgeber intendierten Grundfall (BT-Drucks. 10/1636, 44) des § 171 Abs. 14 AO dar. Ohne Ablaufhemmung könnte der Steuerpflichtige die Steuer zahlen und nach Ablauf der Festsetzungsfrist einen Erstattungsanspruch geltend machen. Dieses Vorgehen wird mit § 171 Abs. 14 AO verhindert, indem die Festsetzungsfrist für die Änderung nicht nach Ablauf des Jahres, in dem das Ereignis eintritt (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO), vier Jahre gilt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), sondern so lange besteht, wie der Erstattungsanspruch geltend gemacht werden kann. Gemäß § 228 Satz 2 AO sind dies fünf Jahre.
a) Die Ablaufhemmung bei fehlender Steuerfestsetzung
Deutlich bedenklicher wird die Anwendung des § 171 Abs. 14 AO, wenn Steuern ohne vorherige Festsetzung gezahlt werden.
Hält man wie der BFH die formelle Rechtsgrundtheorie für vorzugswürdig, so unterfallen dem Anwendungsbereich des § 171 Abs. 14 AO auch Konstellationen, in denen Steuerzahlungen bei noch fehlender Steuerfestsetzung erfolgt sind (BFH zu Akontozahlungen: BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]). Die Zahlung ist nach dieser Ansicht mangels Festsetzung rechtsgrundlos erfolgt und begründet damit einen Erstattungsanspruch, der wiederum den Anwendungsbereich des § 171 Abs. 14 AO eröffnet.
Relevanz erhält dies, wenn der Steuerpflichtige Steuererklärungen berichtigen oder Sachverhalte nacherklären muss (Redeker/Bleifeld, DStR 2022, 391 [392]; dazu im Ansatz Redeker, jurisPR-Compl. 3/2022 Anm. 5), was angesichts der Nachsteuervorbehalte im ErbStG nicht selten vorkommen dürfte.
Da diese Nachsteuervorbehalte i.d.R. eine Anzeigepflicht des Steuerpflichtigen enthalten (vgl. § 13a Abs. 7 ErbStG), nach der er nachträgliche, für die Besteuerung relevante Tatsachen selbst dem FA melden muss, ist häufig der Verdacht der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) nicht auszuschließen (Redeker/Bleifeld, DStR 2022, 391 [392]). Viele Steuerpflichtige werden daher in diesen Fällen nicht nur die Voraussetzungen einer strafbefreienden Selbstanzeige (§ 371 AO) erfüllen, sondern darüber hinaus die Steuerschuld durch eine Akontozahlung, also noch vor Aufforderung und Steuerfestsetzung, mit Einreichung der Steuererklärung begleichen, damit erst gar kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird (Bruschke, AO-StB 2023, 75 [76]). Durch ein solches Vorgehen kann zudem der Erlass von Nachzahlungszinsen gem. AEAO zu § 233a Nr. 70.1.1. und 70.1.2. erwirkt werden (Roth, PStR 2021, 004 [005]).
Beraterhinweis M.E. können noch nicht festgesetzte Steuern allerdings keine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 14 AO begründen. Folgt man der materiellen Rechtsgrundtheorie, so existiert mit den Steuergesetzen eine materiell-rechtliche Grundlage und somit ein Rechtsgrund für die Zahlung, selbst wenn diese Grundlage noch keinen Ausdruck in einem Steuerbescheid gefunden hat. Ein sich grundsätzlich mit einer Akontozahlung "rechtskonform" verhaltender Steuerpflichtiger würde durch eine solche Anwendung des § 171 Abs. 14 AO außerdem ungerechtfertigt bestraft (Wackerback, EFG 2018, 1421 [1424]), was nicht dem Sinn und Zweck der Norm entsprechen kann.
b) Lösungsansätze für die Praxis
Mit etwas Kreativität eröffnen sich dem Steuerpflichtigen (oder seiner Beratung) trotz der fragwürdigen Rspr. des BFH Möglichkeiten, einen Rechtsgrund für eine freiwillige Steuerzahlung vor Festsetzung zu "schaffen", damit kein Erstattungsanspruch und sodann auch keine Ablaufhemmung entstehen kann:
- Einerseits könnte das FA zu einer Festsetzung i.S.d. § 371 Abs. 3 AO aufgefordert werden, was – wendet man die formelle Rechtsgrundtheorie an – als Rechtsgrund für eine Zahlung angesehen werden könnte (Roth, PStR 2021, 004 [005]).
- Andererseits – und das ist bei Erfolg die wohl sicherere Variante – könnte mit dem FA eine vertragliche Abrede geschaffen werden. Wird hierbei ein vertragliches Verwahrverhältnis i.S.d. § 688 BGB geschlossen, so besteht ein rechtlicher Grund für die Zahlung an das FA und somit kein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO (Roth, PStR 2021, 004 [005]).