Der Begriff des "Ereignisses" als solcher ist denkbar weit und daher Gegenstand vielfacher Auslegung: So versteht Frotscher den Begriff als "steuerlich relevanten Sachverhalt im weitesten Sinne" (Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 175 Rz. 59), während Koenig ihn als "jede Begebenheit, die den Sachverhalt oder einen Teil des Sachverhalts ausfüllt, der den gesetzlichen Tatbestand erfüllt" (Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 175 Rz. 38) versteht.
Mit der Rspr. (BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 – unter C. II. 1. a); BFH v. 12.10.2011 – VIII R 12/08, BStBl. II 2010, 381 Rz. 15 = AO-StB 2012, 38 [Steinhauff]; BFH v. 12.7.2017 – I R 86/15, BStBl. II 2018, 138 Rz. 18 = GmbHStB 2018, 42 [Brinkmeier]) verstehen auch einige Teile der Literatur (Große/ Melchior, AO/FGO, 22. Aufl. 2021, Rz. 2123; Bruschke, StB 2018, 377 [379 f.]) unter dem Begriff des Ereignisses "alle steuerrechtlich bedeutsamen Vorgänge, einschließlich der tatsächlichen Lebensvorgänge".
Richtigerweise sollte der Begriff, so wie ihn z.B. Loose interpretiert (Loose in Tipke/Kruse, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 25; so auch v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 46; Bartone in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 175 AO Rz. 35), abstrakt als jeder rechtlich relevanter Vorgang verstanden werden. Aus der syntaktischen Verknüpfung des Begriffs mit dem Rest der Definition "steuerliche Wirkung für die Vergangenheit" lässt sich eine Kausalität zwischen Eintritt des Ereignisses und Eintritt der entspr. Wirkung entnehmen, so dass es des Hineindenkens dieser steuerrechtlichen Relevanz in den Ereignisbegriff gar nicht erst bedarf. Der Begriff sollte also abstrakt gesehen und nicht unnötig verklausuliert werden.
Da die Norm ansonsten aber teleologisch wenig zielführend wäre, kann der Ereignisbegriff nur sachverhaltsändernde Geschehnisse erfassen. Nicht unter den Ereignisbegriff fallen daher z.B. rückwirkende Gesetze und Gesetzesänderungen oder rückwirkende Nichtigkeitserklärungen von Normen durch das BVerfG, da sich hier nicht der Sachverhalt ändert, sondern lediglich die rechtliche Bewertung des Sachverhalts (st. Rspr. BFH v. 26.10.1988 – II R 55/86, BStBl. II 1989, 75 – unter II. 1.; BFH v. 21.3.1996 – XI R 36/95, BStBl. II 1996, 399 – unter II. 2.; BFH v. 6.3.2003 – XI R 13/02, BStBl. II 2003, 554 – unter II. 1. = EStB 2003,250 [Schimmele]; BFH v. 23.11.2006 – V R 28/05, BFH/NV 2007, 872 Rz. 32; Loose in Tipke/Kruse, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 25; v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 175 Rz. 251; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 21.434).