1. Inhalt und Hintergrund der Norm
Nachträglich eintretende Veränderungen eines Sachverhalts berühren einen nach § 38 AO entstandenen Steueranspruch grundsätzlich nicht. Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, in denen das materielle Steuerrecht bestimmten Ereignissen eine rückwirkende Bedeutung beimisst. Ein solches rückwirkendes Ereignis lässt den zunächst rechtmäßigen Steuerbescheid rechtswidrig und damit unwirksam werden (v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 45; Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 175 Rz. 53).
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO stellt dabei eine (rein) verfahrensrechtliche Generalnorm für die Änderung von Steuerbescheiden dar, regelt jedoch nicht, wann ein Ereignis steuerliche Rückwirkung entfaltet (v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 1.3; Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 175 Rz. 34; Bartone in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 175 AO Rz. 34). Sie gilt für solche Fälle, in denen sich der für die Besteuerung maßgebliche Sachverhalt nachträglich geändert hat und diese Änderung eine steuerliche Rückwirkung auslöst (v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 45; Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 175 Rz. 34). Wann eine solche Änderung eintritt, ist dabei eine Frage des materiellen Steuerschuldrechts (BFH v. 28.10.2009 – IX R 17/09, BStBl. II 2010, 539 Rz. 19; Loose in Tipke/Kruse, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 22; v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 48.1).
2. Anwendungsbereich
a) Zeitlicher Anwendungsbereich
Der zeitliche Anwendungsbereich des § 175 AO richtet sich maßgeblich nach dem EGAO. Nach Art. 97 § 9 Abs. 1 Satz 1 EGAO sind die Vorschriften der §§ 172 ff. AO dann anzuwenden, wenn nach dem 31.12.1976 ein Verwaltungsakt aufgehoben oder geändert wird. Dies gilt gem. Satz 2 auch dann, wenn der zu ändernde Verwaltungsakt vor dem 1.1.1977 erlassen wurde.
Die Aufhebung oder Änderung des Bescheids ist bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist zulässig, für die nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO eine besondere, von § 170 Abs. 1 AO abweichende Anlaufhemmung gilt: Sie beginnt erst mit Ablauf des Jahres, in dem das Ereignis eintritt, wobei jedes Ereignis diese Frist erneut beginnen lässt (BFH v. 25.9.1996 – III R 53/93, BStBl. II 1997, 269 Rz. 5; BFH v. 20.12.2000 – III B 43/00, BFH/NV 2001, 744 Rz. 24). Unerheblich ist dabei, wann das Ereignis dem Finanzamt bekannt wird (Lehnert in Zugmaier/Nöcker, AO, 2022, § 175 Rz. 370; a.A. wohl BFH v. 25.9.1996 – III R 53/93, BStBl. II 1997, 269 – unter 5.).
b) Sachlicher Anwendungsbereich
Durch die Einordnung des § 175 in das Korrektursystem der AO (§§ 172 ff. AO) wird der Anwendungsbereich der Norm in sachlicher Hinsicht abgegrenzt, vgl. § 172 Abs. 1 Nr. 2 lit. d Halbs. 1 AO (v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 175 Rz. 35). § 175 AO gilt damit für alle Steuern i.S.d. AO, also für alle Steuerbescheide i.S.d. § 155 AO und alle Bescheide, die wie Steuerbescheide behandelt werden (Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 175 Rz. 35; Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 175 Rz. 55).
Beraterhinweis Dementsprechend werden über § 181 Abs. 1 Satz 1 AO u.a. auch Feststellungsbescheide (BFH v. 28.10.2021 – IV R 12/19, BFH/NV 2022, 244; Klomp in BeckOK/AO, Stand: 4/2023, § 175 Rz. 10), über § 184 Abs. 1 Satz 3 AO Steuermessbescheide (Klomp in BeckOK/AO, Stand: 4/2023, § 175 Rz. 10; Frotscher in Schwarz/Pahlke, Stand: 2/2023, AO, § 155 Rz. 13) und über § 185 i.V.m. § 184 Abs. 1 Satz 3 AO Zerlegungsbescheide (Klomp in BeckOK/AO, Stand: 4/2023, § 175 Rz. 10; Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 155 Rz. 13) von dem Anwendungsbereich umfasst.
3. Die Tatbestandsmerkmale des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO
a) Ereignis
Der Begriff des "Ereignisses" als solcher ist denkbar weit und daher Gegenstand vielfacher Auslegung: So versteht Frotscher den Begriff als "steuerlich relevanten Sachverhalt im weitesten Sinne" (Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 175 Rz. 59), während Koenig ihn als "jede Begebenheit, die den Sachverhalt oder einen Teil des Sachverhalts ausfüllt, der den gesetzlichen Tatbestand erfüllt" (Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 175 Rz. 38) versteht.
Mit der Rspr. (BFH v. 19.7.1993 – GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897 – unter C. II. 1. a); BFH v. 12.10.2011 – VIII R 12/08, BStBl. II 2010, 381 Rz. 15 = AO-StB 2012, 38 [Steinhauff]; BFH v. 12.7.2017 – I R 86/15, BStBl. II 2018, 138 Rz. 18 = GmbHStB 2018, 42 [Brinkmeier]) verstehen auch einige Teile der Literatur (Große/ Melchior, AO/FGO, 22. Aufl. 2021, Rz. 2123; Bruschke, StB 2018, 377 [379 f.]) unter dem Begriff des Ereignisses "alle steuerrechtlich bedeutsamen Vorgänge, einschließlich der tatsächlichen Lebensvorgänge".
Richtigerweise sollte der Begriff, so wie ihn z.B. Loose interpretiert (Loose in Tipke/Kruse, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 25; so auch v. Wedelstädt in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 175 Rz. 46; Bartone in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 175 AO Rz. 35), abstrakt als jeder rechtlich relevanter Vorgang verstanden werden. Aus der syntaktischen Verknüpfung des Begriffs mit dem Rest der Definition "steuerliche Wirkung für die Vergangenheit" lässt sich eine Kausalitä...