1. Regelungsinhalt der Norm
§ 171 Abs. 14 AO sieht vor, dass die Festsetzungsfrist für einen Steueranspruch nicht endet, soweit ein damit zusammenhängender Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO nicht gem. § 228 AO zahlungsverjährt ist. Der gesetzgeberische Hintergrund (BT-Drucks. 10/1636, 44) dieser Norm liegt darin, dass es Situationen geben kann, in denen der Steuerpflichtige eine Steuer gezahlt hat, der dieser Zahlung zugrunde liegende Steuerbescheid aber unwirksam ist.
Zahlt der Steuerpflichtige nun vor Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§§ 169 ff. AO) die festgesetzte Steuer, und macht nach Ablauf dieser Frist, aber vor Ablauf der fünfjährigen Zahlungsverjährungsfrist (§ 228 Satz 2 AO), aufgrund des unwirksamen Bescheids einen Erstattungsanspruch wegen rechtsgrundlos gezahlter Steuern geltend, so hätte die Finanzverwaltung nicht mehr die Möglichkeit, den unwirksamen Bescheid durch einen wirksamen zu ersetzen.
Vermieden werden soll also mit § 171 Abs. 14 AO, dass der Steuerpflichtige seinen Erstattungsanspruch nach Ablauf der Festsetzungsfrist, aber vor Ablauf der Zahlungsverjährung geltend macht, um mit dieser Vorgehensweise den nachträglichen Erlass eines wirksamen Bescheids zu verhindern (Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 171 Rz. 240; Bartone in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 22. Aufl. 2018, § 171 AO Rz. 116; Rüsken in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 175 Rz. 120; Redeker/Bleifeld, DStR 2022, 391 [392]).
In der Vergangenheit wurden insb. im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG, verfassungsrechtliche Bedenken geäußert (vgl. z.B. Koops/Scharfenberg, DStR 1995, 552 [555 f.]). Die Norm ist jedoch verfassungsgemäß und auch geboten (BFH v. 13.3.2001 – VIII R 37/00, BStBl. II 2001, 430, nachfolgend BVerfG v. 18.2.2003 – 2 BvR 1114/01, DStZ 2003, 309; BFH 16.11.2011 – V B 34/11, BFH/NV 2012, 373 – unter 2. b); Fink in BeckOK/AO, Stand: 4/2023, § 171 Rz. 501; Paetsch in Gosch, AO, Stand: 5/2023, § 171 Rz. 192.), denn sie räumt in plausibler Weise einer materiell richtigen Steuerfestsetzung Vorrang vor dem Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Ablauf der im Regelfall geltenden Festsetzungsverjährungsfrist ein (Lehnert in Zugmaier/Nöcker, AO, 2022, § 171 Rz. 458).
Berechtigterweise wird allerdings der Regelungsinhalt der Norm an sich kritisiert, weil Risiken der Finanzverwaltung einseitig auf den Steuerpflichtigen abgewälzt werden (so z.B. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 171 Rz. 243; Drüen in Tipke/Kruse, Stand: 5/2023, AO, § 171 Rz. 106; Bruschke, AO-StB 2023, 75 [76]). Es erscheint jedoch zumindest nicht gänzlich falsch, dass der Fiskus einen Festsetzungsmangel für eine materiell berechtigte Steuerforderung so lange beseitigen kann, wie der Steuerpflichtige die Steuerzahlung zurückverlangen kann (Redeker/Bleifeld, DStR 2022, 391 [392]).
2. Die Problematik des Wortlauts des § 171 Abs. 14 AO
Vielfach diskutiert und Gegenstand zahlreicher Gerichtsurteile (Ausführungen dazu in Haumann, DStR 2019, 1848) ist die Auslegung des Wortlauts des § 171 Abs. 14 AO. Die Intention des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich auf Fälle zu begrenzen, in denen aufgrund eines unwirksamen Bescheids gezahlt wurde (BT-Drucks. 10/1636, 44), hat im Wortlaut der Norm leider kaum Ausdruck gefunden. Deshalb greift die Ablaufhemmung (nach dem Wortlaut der Norm) nun in allen Fällen, in denen ein Anspruch auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Steuern besteht. Fraglich bleibt indes, was den Rechtsgrund der gezahlten Steuern darstellt.
Nach der formellen Rechtsgrundtheorie kommt es grundsätzlich nur auf die Bescheidlage an. Ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung besteht danach selbst dann, wenn der entspr. Bescheid zwar materiell unrichtig ist, aber (noch) nicht geändert wurde oder nicht mehr geändert werden kann (BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 Rz. 27 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]; Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 37 Rz. 25; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: 4/2023, § 37 Rz. 31).
Die materielle Rechtsgrundtheorie stellt hingegen auf die Entstehung des rein materiellen Steueranspruchs ab, also darauf, ob nach den Steuergesetzen ein Anspruch auf die Zahlung bestand (BFH v. 4.8.2020 – VIII R 39/18, BStBl. II 2022, 98 Rz. 28 = AO-StB 2021, 15 [Steinhauff]); Ratschow in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 37 Rz. 25). Dies gilt unabhängig davon, ob er bereits durch einen Bescheid festgesetzt wurde (Roth, PStR 2018, 218 [219]).
Einige Stimmen in der Literatur halten die formelle Rechtsgrundtheorie für vorzugswürdig (Koenig in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 37 Rz. 52; Schwarz in Schwarz/Pahlke, AO, Stand: 2/2023, § 37 Rz. 10; Koenig, DStR 1991, 633 [638]; Nacke/Peichert, DStZ 1996, 207 [208 f.]; Grams, BB 1997, 70 [71 f.]). Auch der BFH, dessen Rspr. zu diesem grundsätzlichen Theoriestreit allerdings bedauerlicherweise uneinheitlich ist (zur materiellen Rechtsgrundtheorie tendierend: BFH v. 6.2.1996 – VII R 50/95, BStBl. II 1997, 112; BFH v. 6.6.2000 – VII R 104/98, BStBl. II 2000, 491 [492 ff.] = EStB 2000, 339 [Rothenberger]; zur formellen Rechtsgr...