Leitsatz
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 wird nicht durch § 70 Abs. 3 EStG verdrängt; beide Vorschriften sind nebeneinander anwendbar.
Normenkette
§ 70 EStG , § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Sachverhalt
Der Kläger ist Vater eines 1972 geborenen Sohnes und einer 1975 geborenen Tochter. Nach der Trennung des Klägers von seiner Ehefrau lebten die Kinder im Haushalt des Klägers.
Im Rahmen der Antragstellung für das Kindergeld im Mai/Juni 1995 gab der Kläger u.a. an, dass seinen Kindern kein Kinderzuschuss zu einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werde.
Die Familienkasse bewilligte Kindergeld mit Bescheid vom 23.11.1995 für den Sohn und mit Bescheid vom 10.1.1996 für die Tochter, jeweils rückwirkend ab November 1994.
Durch Mitteilungen der BfA erfuhr die Familienkasse, dass für den Sohn bis August 1995 und durch Wiederaufnahme ab Oktober 1996 sowie für die Tochter durchgehend jeweils ein Kinderzuschuss gezahlt wurde.
Mit Bescheid vom 11.11.1997 änderte die Familienkasse die Festsetzung des betreffenden Kindergeldes und forderte das zuviel gezahlte Kindergeld zurück (für den Sohn: Zeitraum Oktober und November 1996 und für die Tochter: Zeitraum Januar bis November 1996).
Das FG wies die Klage ab.
Entscheidung
Die Revision des Klägers blieb erfolglos. Zur Begründung führte der BFH aus, dem Kläger habe in den genannten Zeiträumen materiell-rechtlich nur ein um den jeweiligen Kinderzuschuss gemindertes Kindergeld zugestanden (vgl. § 65 EStG).
Rechtsgrundlage für die Änderung der Kindergeld-Festsetzung hinsichtlich des Sohnes sei § 70 Abs. 2 EStG. Das zum 1.1.1996 nach § 78 Abs. 1 Satz 1 EStG a.F. als nach den Vorschriften des EStG festgesetzte Kindergeld sei ursprünglich rechtmäßig gewesen. Eine Änderung der Verhältnisse (§ 70 Abs. 2 EStG) liege in der Wiederaufnahme der Leistung des Kinderzuschusses für den Sohn.
Rechtsgrundlage für die Änderung der Kindergeld-Festsetzung hinsichtlich der Tochter sei § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Diese Vorschrift rekurriere auf den (ursprünglichen) Bescheid vom 10.1.1996, der wegen Bekanntwerden neuer Tatsachen rückwirkend zu ändern sei. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO werde durch die Vorschrift des § 70 Abs. 3 nicht verdrängt.
Hinweis
Bei dem Besprechungsurteil handelt es sich um die Grundsatzentscheidung zum Verhältnis der Korrekturvorschriften bei Kindergeldbescheiden.
Das Urteil stellt klar, dass die Änderungsvorschriften nach der AO (insbesondere § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) und diejenigen nach dem EStG (§ 70 Abs. 2 und 3 EStG)nebeneinander anwendbar sind. Insbesondere § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wird durch § 70 Abs. 3 EStG nicht verdrängt.
Die Vorschriften des § 70 Abs. 2 und Abs. 3 EStG ergänzen die Korrekturvorschriften der AO im Hinblick darauf, dass diese nicht auf Dauerverwaltungsakte, wie es Kindergeldbescheide sind, zugeschnitten sind. Ähnliche Probleme ergaben sich im Übrigen schon bisher im Verhältnis zwischen abgabenrechtlichen und bewertungsrechtlichen Änderungsvorschriften (vgl. § 22 Abs. 3 und Abs. 4 BewG).
Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes (zwingend) aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse ändern. Die Aufhebung oder Änderung erfolgt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Dabei ist unter "Änderung der Verhältnisse" sowohl die Änderung der tatsächlichen als auch der rechtlichen Verhältnisse zu verstehen. Dabei ist zu beachten, dass die Familienkasse – bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen – keinen Ermessensspielraum hat; sie muss die Kindergeldbescheide zwingend aufheben oder ändern (sog. gebundene Entscheidung).
Vereinzelt wurde die Meinung vertreten, § 70 Abs. 3 EStG verdränge die Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Dabei wurde verkannt, dass beide Vorschriften verschiedene Regelungsinhalte haben. § 173 AO greift – wie dies auch bei Steuerbescheiden der Fall ist – auf den ursprünglichen (fehlerhaften) Kindergeldbescheid zurück und stellt diesen richtig.
Nach § 70 Abs. 3 EStG können materielle Fehler der letzten Kindergeld-Festsetzung beseitigt werden, allerdings nur für die Zukunft. Die Vorschrift betrifft insbesondere die Fälle, in denen der zutreffende Sachverhalt der Familienkasse bekannt ist, sie die ihr bekannten Tatsachen jedoch rechtlich unzutreffend würdigt, oder ihrer Entscheidung irrtümlich einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde legt. In diesen Fällen soll die Familienkasse – mangels Vorliegens einer sonstigen Änderungsvorschrift nach der AO – nicht über einen längeren Zeitraum hinweg an die später als unrichtig erkannte Festsetzung gebunden bleiben.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 25.7.2001, VI R 18/99