3.7.1 Abgrenzung und Anwendung
Ein Steuerbescheid ist gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Ein solches Ereignis muss nachträglich eintreten, und zwar in 2-facher Hinsicht: zum einen, nachdem der Steueranspruch entstanden ist, und zum anderen, nachdem der diesbezügliche Steuerbescheid (ggf. der letzte diesbezügliche Änderungsbescheid) ergangen ist. Steuerliche Rückwirkung liegt zwar auch vor, wenn der Steuerbescheid, in dem der Vorgang zu berücksichtigen ist, noch nicht ergangen ist. In diesem Fall ist das rückwirkende Ereignis aber bereits beim erstmaligen Erlass des Steuerbescheids zu berücksichtigen; Entsprechendes gilt, wenn der Steuerbescheid noch nicht bestandskräftig und deshalb aufgrund eines Einspruchs zu ändern ist. Ist dies nicht erfolgt, ist eine spätere Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht mehr zulässig. Es besteht insoweit keine Notwendigkeit mehr, die Bestandskraft zu durchbrechen.
§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist von § 173 AO zu unterscheiden. Während bei Ersterem der steuerlich relevante Sachverhalt nachträglich und rückwirkend eine andere Gestaltung erfährt, wird bei § 173 AO nur die Kenntnis des Finanzamts bezüglich des bereits gegebenen Sachverhalts nachträglich erweitert. Deshalb schließen diese beiden Vorschriften einander aus. Dies bedeutet: Im Fall des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO wird ein zunächst fehlerfreier Bescheid durch den Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses nachträglich fehlerhaft und muss daher korrigiert werden. Hingegen ist im Fall des § 173 AO der Bescheid von Anfang an fehlerhaft und deswegen zu korrigieren.
Durch eine nach § 165 Abs. 1 AO vorläufige Steuerfestsetzung und der damit verbundenen Korrekturmöglichkeit nach § 165 Abs. 2 AO wird die Anwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht ausgeschlossen, falls das die Ungewissheit beseitigende Ereignis zugleich steuerrechtlich zurückwirkt. Von praktischer Bedeutung ist dies dann, wenn dem Finanzamt wegen Ablaufs der Frist des § 171 Abs. 8 AO die Berichtigungsmöglichkeit des § 165 Abs. 2 AO nicht mehr zur Verfügung steht, dafür aber die für die Korrektur nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geltende eigene Anlaufhemmung (s. u.).
Die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids aufgrund eines rückwirkenden Ereignisses erfasst auch die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufenen Rechtsfehler.
3.7.2 Definition des rückwirkenden Ereignisses
Was unter einem rückwirkenden Ereignis zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Es genügt nicht, dass das spätere Ereignis (= alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge; dazu gehören nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge) den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muss sich auch steuerrechtlich in der Weise auswirken, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. In welchen Fällen ein Ereignis – ausnahmsweise – die steuerliche Beurteilung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts noch zu beeinflussen vermag, richtet sich allein nach dem jeweils im Einzelfall einschlägigen materiellen Steuergesetz. Nach diesem ist zu beurteilen, ob zum einen eine Änderung des ursprünglich gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand überhaupt betrifft und ob darüber hinaus der bereits entstandene materielle Steueranspruch mit steuerlicher Rückwirkung noch geändert werden oder entfallen kann. Liegen beide Voraussetzungen vor, dann bedarf es für die Änderung eines bereits bestandskräftigen Steuerbescheids des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO als verfahrensrechtlicher Grundlage.
Rückzahlung von Einnahmen
Ein Steuerpflichtiger muss im Jahr 01 versteuerte Einnahmen im Jahr 02 zurückzahlen. Es handelt sich bei der Rückzahlung nicht um ein Ereignis mit Rückwirkung auf die Höhe der Einkommensteuer 01. Die Einkommensteuer entsteht mit Ablauf des Kalenderjahres. Ereignisse danach haben keinen Einfluss mehr auf sie. Im Beispielsfall ist der Rückzahlungsbetrag im Jahr 02 als negative Einnahme zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt umgekehrt für Rückflüsse von Werbungskosten; sie sind Einnahmen des Rückflussjahres.
Vertragsaufhebung
Ein Arbeits- oder Mietvertrag wird im Jahr 02 mit Wirkung ab 1.1.01 geschlossen, geändert oder aufgehoben. Dies kann auf das Entstehen der Einkommensteuer 0...