Eine neue Ausgangslage im Bereich der steuerstrafrechtlichen Akteneinsicht besteht in Fällen, die von der neugegründeten Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) geführt werden. Deren sachliche Zuständigkeit umfasst nach Art. 22 Abs. 1 EUStA-VO Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union, die in der sog. PIF-Richtlinie konkretisiert sind. Zu den PIF-Delikten gehören u.a. EU-Subventionsbetrug, Bestechung und Bestechlichkeit von EU-Bediensteten zum Nachteil des EU-Haushalts aber auch Geldwäschedelikte, wenn die Vortat ein PIF-Delikt darstellt. Zusätzlich besteht eine Zuständigkeit für grenzüberschreitende Umsatzsteuerhinterziehung, wenn es sich um ein grenzüberschreitendes Umsatzsteuerbetrugssystem handelt, das zwei an der EUStA teilnehmende Mitgliedstaaten betrifft und ein Umsatzsteuerschaden von 10 Mio. Euro entstanden ist. Derzeit entfallen ca. 47 % der von deutschen Delegierten Europäischen Staatsanwälten (DEStA) geführten Verfahren auf Umsatzsteuerkarusselle und Kettenbetrugssysteme, weshalb die Relevanz für die steuerstrafrechtliche Beratung und Verteidigung in Zukunft zunehmen dürfte.
Beraterhinweis Da sich auch das Verfahren der Akteneinsicht nach nationalem Recht richtet, bestehen keine grundsätzlichen Unterschiede für die Verteidigung, wenn die Maßnahmen durch deutsche DEStA geführt werden. Nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 2 S. 2 EUStA-VO hat der Beschuldigte im Rahmen eines von der EUStA geführten Ermittlungsverfahrens das Recht auf "Zugang zur Verfahrensakte", was ihm durch den zuständigen DEStA nach nationalem Recht zu gewähren ist. Da diese Norm neben dem "Beschuldigten" auch den in der StPO nicht definierten Begriff des "Verdächtigen" nennt, ist offen, ob sich hierdurch eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten ergibt. Darüber hinaus setzt auch diese Anspruchsregelung nicht voraus, dass der Beschuldigte verteidigt ist. Für den Zeitpunkt der Akteneinsicht ergeben sich keine Besonderheiten gegenüber einem von der deutschen Staatsanwaltschaft geführten Verfahren. Die Akteneinsicht hat, wenn kein an Art. 6 EMRK zu messender Versagungsgrund vorliegt, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens zu erfolgen, spätestens aber sobald die ständige Kammer der EUStA über die Anklageerhebung entschieden und den Abschluss des Verfahrens vermerkt hat. Bei der Verteidigung in Verfahren unter Beteiligung der EUStA ist zu beachten, dass aufgrund der uneinheitlichen Beschuldigten- und Verteidigungsrechte in den teilnehmenden Mitgliedsstaaten sowie des (zu) weitgehenden Ermessensspielraums bei der Wahl des Ermittlungs- und Anklagestaats immer eine Gefahr des Forum-Shoppings hin zur behördenfreundlichsten Strafprozessordnung besteht. Dies macht eine noch intensivere Kommunikation mit den ausländischen Kollegen erforderlich.
Nach Anklageerhebung entscheidet der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts (§ 147 Abs. 5 S. 1 StPO) über Anträge auf Akteneinsicht, wobei hiergegen im Einzelfall eine Beschwerde nach § 304 StPO in Betracht kommen kann.
Beraterhinweis Die Versagung der Akteneinsicht vor der Hauptverhandlung ist, da die Entscheidungen des Vorsitzenden nicht der sofortigen Beschwerde unterliegen, nach § 336 S. 1 StPO anfechtbar; in der Hauptverhandlung wegen Verletzung des Rechts aus § 147 StPO nach § 338 Nr. 8 StPO.
Entscheidungen über die Modalitäten der Akteneinsicht sind nach § 32f Abs. 3 StPO der Anfechtung entzogen. Dieser Ausschluss betrifft allein die Art und Weise der Akteneinsicht.