Steuerhinterziehung liegt in folgender Konstellation vor: Der Täter möchte seinen GmbH-Anteil von 18 % des Stammkapitals, für welchen er Anschaffungskosten i.H.v. 9.000 EUR aufgewandt hatte, für einen zweistelligen Millionenbetrag an die Gesellschaft verkaufen. Allerdings kann die GmbH den vollen Kaufpreis nicht sofort aufbringen. Der Täter ist aber auf den Zufluss des Kaufpreises angewiesen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und möchte andererseits die durch die Anteilsveräußerung nach § 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 EStG entstehende Steuerlast vermeiden. Durch eine ihm mitgeteilte Vorausberechnung seines Steuerberaters weiß der Angeklagte, dass sich bei einem Kaufpreis von 11,5 Mio. EUR seine ESt-Schuld einschließlich SolZ für den betreffenden VZ auf rd. 3,255 Mio. EUR belaufen würde.
Deshalb schließen der Täter und die GmbH mehrere Vereinbarungen, u.a. einen notariellen Optionsvertrag über den Verkauf und die Abtretung von GmbH-Geschäftsanteilen, worin der Täter gegen Zahlung einer jährlichen Stillhalteprämie von 20.000 EUR der Erwerberin bis zu einem bestimmten Stichtag das Recht einräumt, den Erwerb seiner Geschäftsanteile zu einem jährlich gestaffelten Kaufpreis zu erklären. Gleichzeitig schließen der Täter und die GmbH mehrere sog. Darlehensverträge mit einem Zinssatz von nominal 1,5 % p.a. Die Summe der Valuten, die vom Täter vereinnahmt werden, beträgt 2.022.698,89 EUR. Hierdurch soll der Lebensunterhalt des Täters gesichert werden. Der Täter zahlt nichts auf die "Darlehen" zurück, was auch so dem Willen der Vertragsparteien entsprach und die GmbH wird insolvent.
Der Täter hat somit einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn (§ 17 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 EStG) jedenfalls in Höhe der ihm tatsächlich zugeflossenen Beträge erzielt, weil die Vertragsbeteiligten den Anteilskaufvertrag bereits wirtschaftlich vollzogen hatten. Der Options- und die Darlehensverträge stellen Scheingeschäfte (§ 41 Abs. 2 S. 1 AO) dar. Der Täter erklärt im Wesentlichen nur die Stillhalteprämie in seiner ESt-Erklärung und klärt das FA nicht über die Hintergründe der vertraglichen Konstrukte auf.
Eine einkommensteuerpflichtige Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften i.S.d. § 17 EStG ist anzunehmen, wenn die zivilrechtliche Inhaberschaft (§ 39 Abs. 1 AO) oder zumindest das wirtschaftliche Eigentum (§ 39 Abs. 2 Nr. 1 AO) an den Anteilen auf den Erwerber übergeht. Zu diesem Zeitpunkt entsteht der Veräußerungsgewinn, wobei es auf den Zufluss des Entgelts nicht ankommt (vgl. BFH v. 25.1.1996 – IV R 114/94, BStBl. II 1997, 382; v. 6.12.2016 – IX R 7/16, DStR 2017, 1315; Gosch in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl. 2023, § 17 Rz. 24, 40, 67; Levedag in Schmidt, EStG, 42. Aufl. 2023, § 17 Rz. 113; Vogt in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, § 17 EStG Rz. 465 [August 2023]).
Wirtschaftlicher Eigentümer eines Wirtschftsguts (WG) ist, wer die tatsächliche Sachherrschaft über das WG in der Weise ausübt, dass er den zivilrechtlichen Eigentümer im Regelfall auf Dauer von der Einwirkung auf das WG wirtschaftlich ausschließen kann (vgl. hierzu ausführlich Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 39 AO Rz. 71 ff. [März 2013]). Somit ist der Übergang des wirtschaftlichen Eigentums von Anteilen an Kapitalgesellschaften i.d.R. anzunehmen, wenn der Käufer zivilrechtlich eine geschützte, auf den Erwerb des Rechts gerichtete Position erworben hat, die ihm gegen seinen Willen nicht mehr entzogen werden kann, und die mit dem Anteil verbundenen wesentlichen Rechte sowie das Risiko einer Wertminderung und die Chance einer Wertsteigerung auf ihn übergegangen sind (vgl. BFH v. 2.2.2022 – I R 22/20, BStBl. II 2022, 324; Gosch in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl. 2023, § 17 Rz. 24 m.w.N.).
BGH v. 14.6.2023 – 1 StR 209/22