Versagt das FG einen Antrag eines neu bestellten Prozessbevollmächtigten eines Klägers auf Akteneinsicht ohne rechtlich anzuerkennenden Grund, verletzt es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör. Im Streitfall rügten die Kläger im Rahmen ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision gegen das klageabweisende Urteil des FG die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Das FG hatte aufgrund einer mündlichen Verhandlung entschieden, in der für die Kläger niemand erschienen war. Am Tag vor der mündlichen Verhandlung hatte der neu bestellte Prozessbevollmächtigte der Kläger schriftlich einen Antrag auf Terminverlegung sowie telefonisch Akteneinsicht für seine Einarbeitung in die für ihn neue Sache beantragt. Das FG lehnte in seinem Urteil eine Terminsverlegung u.a. ab, weil die Kläger für den Wechsel ihres Bevollmächtigten keine Gründe genannt hätten und der Wechsel nicht unverschuldet gewesen sei.
Der BFH hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück. Die Durchführung der mündlichen Verhandlung und Entscheidung, ohne den am Vortag mandatierten Bevollmächtigten der Kläger die erstmals beantragte Akteneinsicht zu gewähren, stellt einen Verfahrensmangel i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar. Der grundrechtsgleiche Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG umfasst das Recht der Beteiligten, sich vor der Entscheidung des Gerichts zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (BFH v. 3.4.2019 – III B 80/18, BFH/NV 2019, 841 = AO-StB 2019, 245). Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird jedoch durch die prozessuale Mitverantwortung der Beteiligten begrenzt (BFH v. 8.4.2022 – IX B 10/21, BFH/NV 2022, 733). Das verfassungsrechtliche Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG auf Akteneinsicht wird einfachgesetzlich im Prozessrecht in § 78 FGO geregelt (BFH v. 28.2.2020 – X B 100/19, BFH/NV 2020, 914). Nach den Umständen des Einzelfalls kann das Akteneinsichtsrecht bei rechtsmissbräuchlicher Ausübung im Fall einer Prozessverschleppung versagt werden (BFH v. 15.2.2022 – X B 137/20, BFH/NV 2022, 730). Im Streitfall hat das FG nach Auffassung des BFH die Reichweite des verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs auf Akteneinsicht verkannt und damit den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Es wäre verpflichtet gewesen, vor seiner Entscheidung dem neuen Bevollmächtigten der Kläger die beantragte Akteneinsicht zu gewähren und hierzu den bereits anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung zu verlegen. Die Kläger hatten zuvor im Verfahren keinen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Daher durfte der neue Bevollmächtigte Akteneinsicht beantragen und dieses im Interesse einer sachgerechten Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung für erforderlich halten. Ob das FG seinerseits die Akteneinsicht für erforderlich hielt, ist nach Auffassung des BFH unerheblich. Der Akteneinsichtsantrag des neuen Prozessbevollmächtigten, dessen Wechsel entgegen der Auffassung des FG auch nicht verschuldet war, war auch nicht rechtsmissbräuchlich. Er diente dem legitimen Informationsinteresse der Kläger und ihres neuen Bevollmächtigten und bedeutete insb. keine Prozessverschleppung. Zudem war der von Verfassungs wegen zu erfüllende Anspruch auf Akteneinsicht nach Auffassung des BFH ein erheblicher Grund i.S.d. § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO, der im Streitfall eine Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung geboten hätte. Eine Glaubhaftmachung durch die Kläger wie sie bei Terminverlegungsanträgen erforderlich sind, die kurzfristig, quasi "in letzter Minute" gestellt werden (vgl. BFH v.18.1.2022 – III B 108/21, BFH/NV 2022, 606 = AO-StB 2022, 186 (Lindwurm)), bedurfte es im Streitfall nach der Stellung des Antrags auf Akteneinsicht nicht. Im Übrigen haben die Kläger ihr Recht, die Nichtgewährung der Akteneinsicht zu rügen, nicht nach § 295 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 155 S. 1 FGO verloren (vgl. BFH v. 30.5.2022 – II B 55/21, BFH/NV 2022, 903).
BFH v. 21.4.2023 – III B 41/22