Die Klägerin absolvierte in den Jahren 2009 und 2010 einen Lehrgang zur Rettungssanitäterin und schloss diesen mit dem entsprechenden Examen ab. Die Ausbildung dauerte nicht länger als drei Monate. Nach der Ausbildung begann die Klägerin ein Medizinstudium, das in den Jahren 2011–2016 zu erheblichen Verlusten führte. Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagungen für 2015 und 2016 berücksichtigte das FA antragsgemäß negative Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit. Die Bescheide v. 18.3.2016 und 14.9.2017 ergingen gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§§ 9 Abs. 6, 4 Abs. 9 EStG). Das FA fügte den Bescheiden weitere Erläuterungen hinsichtlich der Vorläufigkeitsvermerke bei. Die Anerkennung der Verluste erfolgte, obwohl der Gesetzgeber aufgrund der Rspr. des BFH (vgl. z.B. BFH v. 28.2.2013 – VI R 6/12, BStBl. II 2015, 180) bereits mit Wirkung zum 1.1.2015 die Vorschrift des § 9 Abs. 6 EStG enger gefasst hat. Danach setzt eine Berufsausbildung als Erstausbildung eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und eine bestandene Abschlussprüfung voraus (BGBl. I 2014, 2417). Mit seiner Entscheidung v. 19.11.2019 hat das BVerfG entschieden, dass die neue Fassung des § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß ist (BVerfG v. 19.11.2029 – 2 BvL 22-27/14, BVerfGE 152, 274 ff.). Aufgrund dieses Beschlusses sah sich das FA veranlasst, die bisher berücksichtigen Aufwendungen für die Berufsausbildung der Klägerin nicht mehr anzuerkennen und erließ am 12.3.2021 gem. § 165 Abs. 2 AO entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob die Klägerin Klage, die Erfolg hatte. Das FG hält die Klage, die sich gegen sog. Nullbescheide richtete, für zulässig, weil eine Bindungswirkung in Bezug für die Verlustfeststellungen für die Streitjahre gem. § 10d Abs. 4 S. 4 EStG bestand (vgl. BFH v. 3.5.2022 – IX 7/21, BStBl. II 2023, 104). In der Sache verneint das FG die Voraussetzungen für eine Änderung zu Lasten der Klägerin. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO berechtigt die Finanzverwaltung zu einer nur vorläufigen Steuerfestsetzung, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Diese Vorschrift ist zur Entlastung von Steuerpflichtigen, Finanzbehörden und Gerichten in Fällen von anhängigen Musterverfahren zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfen eingefügt worden (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 165 AO Rz. 1, 15 ff.; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 165 Rz. 3). Angesichts dieses spezifischen Normzwecks kommt das FG zu der Auffassung, dass eine Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO nur zu einer Änderung führen kann, die für den Steuerpflichtigen günstig ist. Denn entweder wird eine belastende Regelung in dem Musterverfahren von der höchstrichterlichen Rspr. als unbedenklich angesehen und eine Änderung unterbleibt. Wird dagegen die Unvereinbarkeit höchstrichterlich festgestellt, wird die ursprünglich zum Nachteil des Steuerpflichtigen erfolgte Anwendung der beanstandeten Norm durch eine Änderung gem. § 165 Abs. 2 S. 1 AO zugunsten des Steuerpflichtigen korrigiert. Die Auffassung, dass die Änderung einer nach § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig festgesetzten Steuer nur zugunsten des Steuerpflichtigen erfolgen kann, hat bereits das FG Münster in mehreren Entscheidungen vertreten (FG Münster v. 14.9.2006 – 3 K 4376/04, EFG 2007, 83; FG Münster v. 14.9.2006 – 3 K 1881/05, juris). Dabei habe es auch darauf abgestellt, dass bei einer Änderung die Norm des § 176 AO zu berücksichtigen ist. Diese Vorschrift gestatte aber nur eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen. Schließlich stehe die Auslegung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO durch das FG auch im Einklang mit dem überwiegenden Schrifttum (Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 165 AO Rz. 50; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO, § 165 AO Rz. 46; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 165 AO Rz. 68, 117). Im Streitfall habe das FA die Entscheidung des BVerfG v. 19.11.2019 genutzt, um eine unzutreffende gesetzeswidrige Sachbehandlung durch Änderungsbescheide gem. § 165 Abs. 2 S. 1 AO zu korrigieren. Diese Vorschrift gestatte aber gerade keine Korrektur von Rechtsfehlern.
FG Köln v. 12.7.2023 – 3 K 1356/22 [Rev. anhängig: BFH VI R 14/23]