Höhe der Aussetzungszinsen verfassungswidrig?

Der höhere Zinssatz bei Festsetzung von Aussetzungszinsen im Vergleich zu Zinsen nach § 233a AO ist nach Auffassung des BFH seit 2019 verfassungswidrig. Wenngleich bis zu einer Entscheidung des BVerfG Jahre vergehen werden, muss bereits gegenwärtig nicht nur gegen ADV-Zinsbescheide verfahrensrechtlich vorgegangen werden, um von einer künftigen positiven BVerfG-Entscheidung profitieren zu können.

Blick in die aktuelle Rechtslage

Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden nach Maßgabe von §§ 233 ff. AO verzinst. In den §§ 233a bis 237 AO sind folgende Verzinsungen geregelt:

  • § 233a AO: Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen
  • § 234 AO: Stundungszinsen
  • § 235 AO: Verzinsung von hinterzogenen Steuern
  • § 236 AO: Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge
  • § 237 AO: Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung

Die Höhe und die Berechnung der Zinsen ergibt sich aus § 238 AO.

Durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung v. 12.7.2022 (BGBl I 2022, 1142) hat der Gesetzgeber ab dem 1.1.2019 den Zinssatz für Verzinsungstatbestände nach § 233a AO auf 0,15 % für jeden Monat (jährlich: 1,8 %) reduziert (§ 238 Abs. 1a AO). Die gesetzliche Änderung waren nach den Beschlüsse des BVerfG v. 8.7.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, BGBl I 2021, 4303) nötig, wonach der ursprüngliche Zinssatz von 0,5 % pro Monat für Verzinsungszeiträume ab 2019 mit dem GG unvereinbar und nicht mehr anzuwenden war. Der Zinssatz erwies sich in den Fällen des § 233a AO und vor dem Hintergrund des anhaltend niedrigen Zinsniveaus als „evident nicht mehr realitätsgerecht“. Mit dem vorgenannten Gesetz war der Gesetzgeber der Verpflichtung des BVerfG nachgekommen, bis zum 31.7.2022 eine gesetzliche Neuregelung rückwirkend ab 2019 zu verabschieden.

Folglich existiert seit 2019 eine Zinssatzspreizung, da für die anderen Verzinsungstatbestände der monatliche Zinssatz weiterhin bei 0,5 % (jährlich: 6 %) liegt.

Offene Frage

Der BFH hat nunmehr die Frage zu entscheiden, ob die Höhe der Aussetzungszinsen von 0,5 % monatlich (6 % p. a.) unvereinbar mit dem Grundgesetz ist.

Sachverhalt: ADV-Zinsen für 78 Monate

Der dem BFH-Beschluss zugrunde liegende Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:

  • Der Kläger wandte sich mit dem Einspruch und Klage gegen seine Veranlagung zur Einkommensteuer 2012.
  • Auf Antrag des Klägers setzte das Finanzamt die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids 2012 i.H.v. 22.600 EUR (Einkommensteuer) und 1.350 EUR (Solidaritätszuschlag) ab deren Fälligkeit aus.
  • Die Klage war erfolglos.
  • Anschließend setzte das Finanzamt Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer 2012 und zum Solidaritätszuschlag 2012 für die Zeit vom 22.9.2014 bis zum 15.4.2021 fest und zwar mit dem gesetzlichen Zinssatz von 0,5 % für 78 volle Monate in Höhe von 8.814 EUR (Einkommensteuer) und 526 EUR (Solidaritätszuschlag).
  • Auf den Zeitraum vom 1.1.2019 bis zum 15.4.2021 entfielen Zinsen von 3.051 EUR (Einkommensteuer) und 182,25 EUR (Solidaritätszuschlag).
  • Dagegen legte der Kläger fristgerecht Einspruch ein. Der Einspruch ruhte zunächst wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die Höhe des gesetzlichen Zinssatzes. Nach dem Beschluss des BVerfG v. 8.7.2021 (1 BvR 2237/14) zur Unvereinbarkeit des Zinssatzes bei der Vollverzinsung nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO mit Art. 3 Abs. 1 GG wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück.

Mit der dagegen erhobenen Klage machte der Kläger geltend, die AdV-Zinsen seien der Höhe nach seit dem 1.1.2019 verfassungswidrig und dürften nicht mehr erhoben werden.

FG Münster: Höhe der Aussetzungszinsen auch ab 2019 verfassungsgemäß

Das FG Münster bestätigte mit Urteil v. 8.3.2023 (6 K 2094/22 E) die von der Finanzverwaltung vertretene Auffassung. Die Höhe der Aussetzungszinsen verstoße – anders als die Höhe der Nachzahlungs- und Erstattungszinsen nach § 233a AO – nicht gegen das Verfassungsrecht.

Entscheidung: Vorlage an das BVerfG

Der BFH hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und eine Entscheidung des BVerfG eingeholt.

Zumindest der VIII. Senat des BFH ist davon überzeugt, dass die Höhe der ADV-Zinsen seit dem 1.1.2019 bis zum 15.4.2021 gegen Art. 3 GG verstoße.

  • Die Belastung mit AdV-Zinsen i.H.v. 0,5 % monatlich führe zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase zu mehr als nur einer Liquiditätsvorteilsabschöpfung (Rz. 69).
  • Der Zinssatz bei ADV-Zinsen sei zumindest ab 2019 unverhältnismäßig hoch (Rz. 71 ff).
  • Eine Ungleichbehandlung zur Höhe der § 233a AO-Zinsen liegt zudem vor. Steuerpflichtige, deren Steuerzahlungen zunächst ausgesetzt werden, werden im Vergleich zu Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nachträglich festgesetzt wird und bei denen Nachzahlungszinsen entstehen, ungleich behandelt. Die seit 2019 geltende Zinssatzspreizung ist nach Auffassung des VIII. Senats des BFH verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Die Ungleichbehandlung könne auch nicht mit der Begründung verneint werden, die Steuerpflichtigen hätten es (mehr oder weniger) selbst in der Hand, ob AdV-Zinsen entstehen. Durch die Antragsstellung nehme man zwar bewusst das Risiko von AdV-Zinsen in Kauf. Gleichwohl dürften diese Zinsen der Höhe nach nicht mehr als nur einen Liquiditätsvorteil abschöpfen (Rz. 75 ff.) und es dürfte im Vergleich zur Verzinsungshöhe nach § 233a AO nicht zu einer Ungleichbehandlung kommen. Dies sei aber seit 2019 der Fall.

Weitreichende Praxisfolgen

Der BFH-Beschluss ist für die Jahre ab 2019 bereits gegenwärtig überaus praxisbedeutsam.

Welche Verzinsungstatbestände sind dem Grunde nach betroffen?

Eine Ungleichbehandlung aufgrund einer Zinssatzspreizung und einer Abschöpfung mehr als nur eines Liquiditätsvorteils betrifft nicht nur die Höhe der Aussetzungszinsen (§ 237 AO). Auch folgende weitere Verzinsungstatbestände dürften von der Diskussion über die verfassungswidrige Zinshöhe erfasst sein:

  • § 234 AO: Stundungszinsen
  • § 235 AO: Verzinsung von hinterzogenen Steuern
  • § 236 AO: Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge

Fraglich bleibt, ob auch die Höhe des Säumniszuschlags als verfassungswidrig zu beurteilen ist.

Welche Verzinsungszeiträume sind betroffen?

Im Entscheidungsfall war über den Zinszeitraum vom 1.1.2019 bis zum 15.4.2021 zu entscheiden. Die Zinssatzspreizung zur Zinshöhe nach § 233a AO gilt gegenwärtig weiterhin und ist unabhängig vom geänderten Zinsniveau nicht zu rechtfertigen. Hieraus folgt aus meiner Sicht, dass sich die Frage der Verfassungswidrigkeit für Zeiträume ab 2019 und zwar über den 15.4.2021 hinaus stellt.

Wie ist mit gegenwärtigen Zinsbescheiden umzugehen?

Gegen Zinsbescheide, die

  • Stundungszinsen (§ 234 AO),
  • Hinterziehungszinsen (§ 235 AO),
  • Prozesszinsen (§ 236 AO) und
  • Aussetzungszinsen (§ 237 AO)

betreffen, sollte für Verzinsungszeiträume ab 2019 Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens wegen des beim BVerfG anhängigen Verfahrens (§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO) beantragt werden.

Durch die Einlegung des Einspruchs kann zudem ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 361 AO) der ab 2019 strittigen Zinszahlung gestellt werden. M. E. ist seit 2019 eine Zinsfestsetzung oberhalb der Zinshöhe nach § 233a AO rechtlich ernstlich zweifelhaft und auszusetzen.

Ein weitergehendes Kostenrisiko entsteht durch die Aussetzung der Vollziehung der streitigen Zinsen nicht. Bei den Zinsen handelt es sich um steuerliche Nebenleistung (§ 3 Abs. 4 Nr. 4 AO), die nicht zu verzinsen sind (§ 233 AO).

Sofern die Finanzverwaltung künftigen Zinsbescheiden einen Vorläufigkeitsvermerk (§ 165 AO) beifügt, bleiben die Bescheide bis zur Entscheidung des BVerfG offen. Allerdings besteht ohne Einspruchsverfahrens keine Möglichkeit, die Aussetzung der Vollziehung der strittigen Zinszahlung erfolgreich zu beantragen. Eine Einspruchseinlegung dürfte daher vorrangig zu empfehlen sein.

Mögliche gesetzgeberische Reaktion

Bis zu einer Entscheidung des BVerfG dürften Jahre vergehen. Gleichwohl sollte der Gesetzgeber sich auch wegen der haushaltsrechtlichen Risiken für eine frühzeitige gesetzliche Gleichbehandlung sämtlicher Verzinsungstatbestände entscheiden. Um fortdauernde Diskussionen über die Zinssatzhöhe und der Frage der (erhöhten) Liquiditätsvorteilsabschöpfung zu verhindern, sollte künftig eine Koppelung an die Höhe des Basiszinssatzes nach § 247 BGB nachgedacht werden. So können auch künftige Musterverfahren bezüglicher der Zinssatzhöhe verhindert werden. Die technische Umsetzung eines gekoppelten Zinssatzes ist Sache der Finanzverwaltung; verlangt man von Unternehmen die kurzfristige Einführung von E-Rechnungen im B2B-Bereich, sollte auch die Finanzverwaltung innerhalb kurzer Zeit eine Umsetzung einer gleitenden Zinssatzänderung umsetzen können.

BFH, Beschluss v. 8.5. 2024, VIII R 9/23; veröffentlicht am 22.8.2024

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