Abgrenzung zu anderen BFH-Senaten: Der X. Senat grenzt sich von der Rechtsprechung der anderen Senate ab.
IV. Senat vom 28.5.2020: Insbesondere das Urteil des IV. Senats vom 28.5.2020 kann – im Hinblick auf die Bedeutung der Geschäftsführungsbefugnis – anders als das Besprechungsurteil verstanden werden. Im Fall des IV. Senats konnten sich die Mehrheitsgesellschafter zwar in der Betriebskapitalgesellschaft in der Gesellschafterversammlung durchsetzen, nicht aber im Besitzunternehmen, da in der Besitz-GbR
- ein sog. Nur-Besitzgesellschafter mit 1 % aufgenommen war und
- das Einstimmigkeitsprinzip galt.
Aufgrund der konkreten Geschäftsführungsregelungen konnten sich die Mehrheitsgesellschafter (in der Betriebskapitalgesellschaft zusammen mit einem Prokuristen) im Hinblick auf die Willensbildung bzgl. der täglichen Geschäfte und insbesondere bzgl. des Überlassungsverhältnisses gleichwohl durchsetzen.
Diese Voraussetzung liegt im Besprechungs-Beispiel 2 ebenfalls vor:
- A beherrscht im Beispiel 2 das Besitzunternehmen allein.
- A hat 50 % der Stimmen in der Gesellschafterversammlung.
- A ist alleinige GF’in (die Bestellung wirksam unterstellt, was nach Auffassung des X. Senats aber nicht entscheidend sein soll).
Folge: Damit kann A
- ... ihren Willen bzgl. des Überlassungsverhältnisses sowohl im Besitzunternehmen als auch in der Betriebskapitalgesellschaft durchsetzen;
- ... aufgrund des Stimmenpatts in der Gesellschafterversammlung als GF’in nicht abberufen und nicht angewiesen werden;
- ... sowohl ihre Abberufung als auch ihre Anweisung verhindern.
Beachten Sie: Insofern – müsste man meinen – weicht das Besprechungsurteil des X. Senats von der Rechtsprechung des IV. Senats ab.
X. Senat sieht keine abweichende Rechtsprechung – und deshalb auch keine Anrufung des Großen Senats: Diese Abweichung, die die Anrufung des Großen Senats bedeutet hätte, sieht der X. Senat aufgrund abweichender Sachverhaltskonstellationen nicht. Der X. Senat führt aus, dass im Urteil des IV. Senats vom 28.5.2020 – sowie in weiteren Urteilen anderer Senate – die Gesellschafter, die die Geschäftsführungsbefugnis innehatten, grundsätzlich auch die Stimmrechtsmehrheit – verstanden als 50 % plus eine Stimme – innehatten. Nur konnten sich diese Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung nicht durchsetzen, weil in den Gesellschaftsverträgen ein höheres Stimmrechtsquorum bis hin zur Einstimmigkeit vereinbart war.
Kritik: Diese Argumentation des X. Senats ist für mich nicht nachvollziehbar. Gilt in der Betriebskapitalgesellschaft das (einfache) Mehrheitsprinzip und hat die Gesellschafter-GF’in nur 50 % der Stimmen, kann sie sich in der Gesellschafterversammlung nicht durchsetzen, aber die Geschäftsführung unabhängig und ungestört ausüben. Damit ist diese Machtstellung identisch mit der Machtstellung eines Gesellschafters, der in der Betriebskapitalgesellschaft zwar 50 % plus eine Stimme innehat, sich in der Gesellschafterversammlung aufgrund des gesellschaftsrechtlich vereinbarten höheren Stimmrechtsquorums aber nicht durchsetzen kann.
Auch in dieser Konstellation kann der Mehrheitsgesellschafter-GF, wenn keine anderweitigen gesellschaftsvertraglichen Regelungen bestehen, die Geschäfte unabhängig und eigenständig führen – und damit seinen Willen in Bezug auf die Geschäfte des täglichen Lebens und insbesondere in Bezug auf das Überlassungsverhältnis durchsetzen. Überzeugend ist die Argumentation des X. Senats in diesem Punkt nicht.
Beraterhinweis Unabhängig davon, ob systematisch überzeugend oder nicht, bleibt festzuhalten, dass nach Auffassung des X. Senats eine personelle Verflechtung ohne (einfache) Stimmrechtsmehrheit in der Gesellschafterversammlung auch bei Innehaben der GF-Stellung grundsätzlich nicht in Betracht kommt.