Leitsatz
1. Eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung, der ein mangels Bekanntgabe nicht wirksam gewordener Steuerbescheid und damit kein wirksamer Vollstreckungstitel und kein Leistungsgebot zugrunde liegt, ist (entgegen der früheren Rechtsprechung des Senats) nicht nichtig, sondern (anfechtbar) rechtswidrig.
2. Die in § 249 Abs. 1 und § 254 Abs. 1 AO genannten Vollstreckungsvoraussetzungen sind besondere, unabdingbare Statthaftigkeitsvoraussetzungen einer rechtmäßigen Vollstreckung, deren Fehlen bei Beginn der Vollstreckungshandlungen zu einem – auch durch Nachholung der Voraussetzungen während des Vollstreckungsverfahrens – nicht heilbaren Rechtsfehler und bei Anfechtung zur ersatzlosen Aufhebung der dennoch ausgebrachten Vollstreckungsmaßnahme führt.
Normenkette
§ 124 Abs. 1 AO , § 125 Abs. 1 AO , § 249 Abs. 1 AO , § 254 Abs. 1 AO
Sachverhalt
Das FA pfändete wegen offener Umsatzsteuerforderungen das Bankguthaben des Steuerpflichtigen. Dieser wandte ein, er habe gar keinen Umsatzsteuerbescheid erhalten. Das FA übersandte ihm daraufhin eine Kopie dieses Bescheids. Gleichwohl begehrte der Steuerpflichtige weiterhin die Aufhebung der Pfändungsverfügung.
Entscheidung
Der BFH hat dem Steuerpflichtigen Recht gegeben. Die Pfändungsverfügung sei allerdings nicht nichtig gewesen. Aus dem Umstand, dass bei ihrem Erlass der Steuerbescheid noch nicht wirksam bekannt gegeben gewesen sei, folge nicht die Nichtigkeit des auf jenen Steuerbescheid gestützten Vollstreckungsbescheids. Nichtigkeit der Vollstreckungsmaßnahme bei fehlendem Vollstreckungstitel werde zwar im Zivilrecht überwiegend angenommen, insbesondere vom BGH.
Bei der Verwaltungsvollstreckung soll dies aber anders sein. Nichtigkeit setze hier einen "offenkundigen" Mangel voraus. Das Fehlen der Vollstreckungsgrundlage sei aber der Vollstreckungsmaßnahme gar nicht anzusehen und überdies erst anhand von Ermittlungen der Behörde und des Gerichts festgestellt worden, also nicht offenkundig gewesen.
Die vor Bekanntgabe des Steuerbescheids erlassene Pfändungsverfügung sei aber als rechtswidrig aufzuheben, und zwar ungeachtet dessen, dass bis zur Entscheidung des Gerichts der Steuerbescheid wirksam geworden sei. Der BFH meint dazu, §§ 249, 254 AO enthielten Statthaftigkeitsvoraussetzungen für die Vollstreckung, die bei deren Beginn vorliegen müssten. Habe es an ihnen gefehlt, würden gleichwohl erlassene Vollstreckungsmaßnahmen auch dann nicht geheilt, wenn die betreffenden Voraussetzungen (im Streitfall: Bekanntgabe des vollstreckten Steuerbescheids) nachträglich eintreten.
Hinweis
1. Die Vollstreckung von Steuerverwaltungsakten ist in der AO eigenständig geregelt. Allerdings sind deren Vorschriften weitgehend den Vollstreckungsvorschriften der ZPO nachgebildet. Wie die Besprechungsentscheidung zeigt, können Sie gleichwohl nicht stets sicher sein, dass der BFH der Auslegung der Vollstreckungsvorschriften seitens des BGH folgt.
2. Grundlage jeder Vollstreckung ist der vollstreckte Titel. Bei der Vollstreckung nach der AO handelt es sich dabei in der Regel um einen Steuerbescheid. Fehlt es an einem solchen Titel (z.B. weil der Steuerverwaltungsakt nichtig oder z.B. mangels Bekanntgabe nicht wirksam ist), kann nicht vollstreckt werden. Während so viel ohne weiteres klar ist, besteht Unklarheit und Streit darüber, ob das Fehlen eines (wirksamen) Titels Vollstreckungsmaßnahmen ohne weiteres unwirksam (nichtig) macht und ob wegen Fehlens eines (wirksamen) Titels allemal rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahmen gleichsam in die Rechtmäßigkeit hineinwachsen, wenn ein solcher Titel nachträglich ergeht bzw. nachträglich Wirksamkeit erlangt. Mit diesen beiden Problemen beschäftigt sich die Besprechungsentscheidung.
3. Die Antwort auf die erste Frage hängt im Wesentlichen von der Auslegung des § 125 Abs. 1 AO ab. Die dazu in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannten Kriterien bestehen aus zwei Elementen; es muss sich bei einem zur Nichtigkeit führenden Rechtsmangel erstens um einen schwerwiegenden Mangel handeln und zweitens muss das Gewicht dieses Mangels für jeden verständigen Dritten erkennbar sein; er muss mit anderen Worten von der Art sein, dass niemand daran zweifeln würde, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist (Evidenz des Mangels).
"Offenkundigkeit" i.S.d. § 125 Abs. 1 AO meint freilich nicht Erkennbarkeit für jedermann; auch wenn sich die Gewissheit von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts – wie im Allgemeinen – erst bei näherer Kenntnis der für die Beurteilung relevanten Umstände einstellt, hindert dies das Verdikt der Nichtigkeit nicht! Hingegen will der BFH in der Besprechungsentscheidung offenbar nur die Umstände berücksichtigen, die ohne jede Ermittlungen auch für das Gericht "augenfällig" sind.
4. Beachten Sie im Übrigen, dass die Frage, ob bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts entsprechend der hier vom BFH getroffenen Entscheidung nachträglich eingetretene Tatsachen (hier die Vollstreckungsvoraussetzung des Wirksamwerdens des vollstreckten Steu...