Leitsatz

Das FA kann im Insolvenzverfahren mit Forderungen aufrechnen, die vor Verfahrenseröffnung entstanden sind, ohne dass es deren vorheriger Festsetzung, Feststellung oder Anmeldung zur Insolvenztabelle bedarf.

 

Normenkette

§ 218 Abs. 1 AO , § 220 AO , § 251 Abs. 3 AO , § 18 Abs. 1 UStG , § 87 InsO , § 41 Abs. 1 InsO , § 94 InsO , § 95 Abs. 1 InsO , § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO

 

Sachverhalt

Über das Vermögen einer GmbH war das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Verwalter reichte beim FA für die Gemeinschuldnerin eine berichtigte Lohnsteueranmeldung für einen vor Verfahrenseröffnung liegenden Zeitraum ein, aus der sich ein Guthaben ergibt. Das FA stimmte dieser Anmeldung nach Verfahrenseröffnung zu, meldete aber zugleich eine vor Verfahrenseröffnung entstandene Umsatzsteuerforderung gegen die Gemeinschuldnerin an.

Der Verwalter widersprach der Anmeldung vorsorglich "bis zur weiteren Klärung". Daraufhin erklärte das FA die Aufrechnung der angeblichen Umsatzsteuerverbindlichkeit gegen das Lohnsteuerguthaben der Gemeinschuldnerin.

 

Entscheidung

Wird über das Vermögen eines Steuerschuldners ein Insolvenzverfahren eröffnet, so werden – vorbehaltlich spezieller steuergesetzlicher Fälligkeitsbestimmungen, die einen früheren Fälligkeitszeitpunkt bestimmen – die in diesem Zeitpunkt entstandenen Steuerforderungen des FA fällig. Einer vorherigen Festsetzung der Steuerforderung durch Steuerbescheid (§ 218 Abs. 1 AO) oder ihrer Feststellung durch Verwaltungsakt nach Maßgabe der InsO oder wenigstens einer Anmeldung der Forderung zur Tabelle bedarf es dafür nicht. Denn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wird nach § 220 Abs. 2 Satz 1 AO grundsätzlich mit seiner Entstehung fällig, sofern er nicht – was der Regelfall ist – einer Festsetzung bedarf und dann erst mit deren Bekanntgabe fällig wird (vgl. § 220 Abs. 2 Satz 2 AO).

Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bedürfen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis keiner Festsetzung durch Steuerbescheid und können vom FA auch gar nicht festgesetzt werden (vgl. § 87 InsO). Sie werden also mit Verfahrenseröffnung fällig, weil in diesem Augenblick das Festsetzungserfordernis entfällt.

 

Hinweis

Die Fälligkeit von Steuerforderungen ist in § 220 AO geregelt. Die Vorschrift unterscheidet drei Gruppen von Fälligkeiten: Fälligkeit nach Maßgabe besonderer steuerrechtlicher Regelung; Fälligkeit mit Entstehen des Anspruchs; Fälligkeit mit Bekanntgabe der Steuerfestsetzung. Der erste Fall kommt kaum vor (siehe aber unten). Der zweite ist der gesetzliche Regelfall und der praktisch seltene Ausnahmefall. Denn die Grundlage für die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis sind nun einmal regelmäßig die Steuerbescheide (§ 218 Abs. 1 AO), was bedeutet, dass Steuerforderungen des FA fast durchgängig der Festsetzung durch Bescheid des FA (§ 155 AO) bzw. durch Steueranmeldung des Steuerpflichtigen, wo eine solche vorgeschrieben ist, bedürfen (Schulbeispiel der Ausnahme: Säumniszuschläge); dann "ergibt sich" der Anspruch gewissermaßen erst aus der Festsetzung.

§ 220 Abs. 2 Satz 2 macht die Fälligkeit aber nur dann von der Bekanntgabe eines Steuerbescheids abhängig, wenn der Anspruch der "Festsetzung" (nämlich durch Bescheid nach § 155 Abs. 1 AO) bedarf. Unterscheiden Sie mit der Besprechungsentscheidung hiervon die Notwendigkeit einer Feststellung einer Steuerforderung durch Feststellungsbescheid im Insolvenzverfahren! Sie tritt nur und erst dann ein, wenn der Forderung des FA im Insolvenzverfahren von dem Verwalter oder einem anderen Insolvenzgläubiger (nicht bloß dem Schuldner!) widersprochen worden ist. Zwischen Verfahrenseröffnung und Prüfungstermin (in dem in der Regel erst widersprochen werden kann) kann das FA deshalb seine Forderung weder festsetzen noch feststellen. Deshalb kann vernünftigerweise insoweit die Anwendung des § 220 Abs. 2 Satz 2 AO nicht in Betracht kommen. Dass die Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle für deren Fälligkeit keine Bedeutung haben kann, dürfte schon nach dem Wortlaut des § 220 AO eindeutig sein.

Die Frage, ob die fehlerhafte Umsatzsteuervorauszahlung ein Beispiel für die Gruppe von Steuerforderungen ist, bei der eine spezialgesetzliche Fälligkeitsregelung (i.e. im UStG) besteht, konnte die Besprechungsentscheidung offen lassen. Es ist fraglich, ob Umsatzsteuervorauszahlungsschulden, die entgegen § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG nicht angemeldet worden sind, ebenso wie die angemeldeten mit Ablauf der Anmeldefrist (10. des Folgemonats) fällig werden. Das hat der BFH für die rechtsähnlich ausgestaltete Anmeldung von marktordnungsrechtlich vorgesehenen Milch-Abgaben angenommen, allerdings erst auf entsprechende Veranlassung durch den EuGH.

Zum UStG werden insofern im Schrifttum unterschiedliche Auffassungen vertreten (einerseits Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 220 Rdnr. 5 und Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, § 240 AO Rdnr. 46; andererseits u.a. Birkenfeld, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, Bd. I...

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