Aufgrund der EU- und EWR-Regelungen müssen Staatsangehörige aus anderen EU-/EWR-Staaten, die im Inland einen Wohnsitz haben, nicht im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder einer Aufenthaltserlaubnis sein, damit sie Anspruch auf Kindergeld haben. § 62 Abs. 2 EStG ist daher nicht anzuwenden auf freizügigkeitsberechtigte Ausländer, d. h. Staatsangehörige der EU-/EWR-Staaten und ihre Familienangehörigen, deren Rechtstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) geregelt ist. Für sie gelten dieselben Voraussetzungen wie für Inländer. Für schweizer Staatsangehörige gilt dies entsprechend, da diese nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 62 Abs. 1a EStG nicht von der Regelung erfasst werden. Im Übrigen ist Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld, dass der Staatsangehörige eines anderen EU-/EWR-Staates nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG i. V. m. § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU und freizügigkeitsberechtigt ist.
Bei britischen Staatsangehörigen ist entscheidend, ob bereits vor dem 1.1.2021 ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland oder einem anderen Mitgliedsstaat begründet war ("Bestandsschutz"). In diesem Fall stehen sie nach dem Austrittsabkommen einem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger gleich. Andernfalls haben sie die Erfordernisse des § 62 Abs. 2 EStG zu erfüllen.
Grundsätzlich ist bei Staatsangehörigen der EU- bzw. EWR-Staaten und der Schweiz von der Freizügigkeitsberechtigung auszugehen.
Geht der Staatsangehörige eines anderen EU-Staates im Inland einer nichtselbstständigen Arbeit i. S. v. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nach, ist er auch dann als Arbeitnehmer i. S. v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, wenn in diesem Arbeitsverhältnis ggf. gegen das Mindestlohngesetz verstoßen wird, Sozialversicherungsbeträge nicht (vollständig) abgeführt werden und sich der Arbeitgeber deswegen evtl. nach § 266a StGB strafbar macht. Ein möglicher Verstoß des Arbeitgebers gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften kann insoweit nicht zur Versagung von Familienleistungen in Deutschland führen.
Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit eines Unionsbürgers obliegt – auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung – den Ausländerbehörden.
Die Familienkasse ist nicht an eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellende Entscheidung der Ausländerbehörde gebunden und besitzt eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung.
Für Zeiträume ab August 2019 war für Berechtigte mit EU-/EWR-Staatsangehörigkeit zudem § 62 Abs. 1a EStG zu beachten, wonach für die ersten 3 Monate nach Begründung des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts grundsätzlich kein Anspruch auf Kindergeld bestand, soweit nicht nachgewiesen wurde, dass Einkünfte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG – abgesehen von Einkünften nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG – erzielt wurden. Mit Urteil v. 1.8.2022 hat der EuGH diesen 3-monatigen Anspruchsausschluss aber für unionsrechtswidrig erklärt.
Sind die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG nicht erfüllt, kann ein Kindergeldanspruch aus dem sog. abgeleiteten Freizügigkeitsrecht und dem Gleichheitsgebot bestehen.
Der "Ablauf des in § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG genannten Zeitraums" i. S. d. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist taggenau zu ermitteln. In der Praxis kann die taggenaue Ermittlung des 3-Monats-Zeitraums daher dazu führen, dass das Kindergeld insgesamt für 4 Kalendermonate ab dem Zeitpunkt der Einreise zu gewähren ist.
In der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, die auf Kindergeldfälle ab 1.5.2010 anzuwenden ist, wurde der Begriff der Beschäftigung weiter gefasst. Danach wird nicht mehr auf die Sozialversicherungspflicht abgestellt. Als Beschäftigung gilt jede nichtselbstständige Arbeit, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt wird. Somit fällt auch eine geringfügige Beschäftigung darunter. Zu den Unterschieden in der Systematik des alten und des neuen EU-Rechts äußert sich das FG Berlin-Brandenburg.
Die Vorschriften des Titels II der Verordnung(en) begründen als Kollisionsregeln keinen unmittelbaren Anspruch auf Kindergeld aus Unionsrecht. Ein Anspruch nach dem EStG besteht nur, wenn die mit dem Unionsrecht im Einklang stehenden nationalen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (z. B. Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt).
Staatsangehörige von Drittstaaten können unter Beachtung des Freizügigkeitsgesetzes als Familienangehörige eines Staatsangehörigen der EU- bzw. EWR-Staaten bzw. der Schweiz, der selbst freizügigkeitsberechtigt ist, ebenfalls freizügigkeitsberechtigt sein.