Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Leitsatz
Trifft einen gesetzlichen Vertreter im Sinne von § 34 AO beim Einsatz eines Steuerberaters kein Auswahl- und Überwachungsverschulden, und hat er keinen Anlass, an der korrekten Mandatsabwicklung zu zweifeln, so handelt er nicht grob fahrlässig im Sinne von § 69 Abs. 1 Satz 1 AO.
Sachverhalt
Die A-GmbH gab trotz entsprechender Verpflichtung keine Umsatzsteuervoranmeldungen für das 1. und das 2. Kalendervierteljahr 2018 ab, weshalb das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen schätzte. In der Folge reichte die A-GmbH die Voranmeldungen nach. Die Differenzbeträge wurden durch die A-GmbH trotz mehrfacher Mahnung des Finanzamts nicht entrichtet.
Das Finanzamt nahm den Geschäftsführer - den Kläger - in Höhe von 100% der Umsatzsteuervorauszahlungen der A-GmbH nebst Säumniszuschlägen nach § 69 AO in Haftung, wogegen dieser Einspruch einlegte. Zur Begründung trug er vor, er habe die verspätete Abgabe der Voranmeldungen nicht zu vertreten, da er sich auf die Steuerberaterin der A-GmbH verlassen habe. Diese habe den Auftrag gehabt, die Voranmeldungen pünktlich zu erstellen, dies jedoch pflichtwidrig unterlassen.
In der Einspruchsentscheidung reduzierte das Finanzamt die Haftungssumme auf 90 % der Rückstände, wies den Einspruch jedoch im Übrigen als unbegründet zurück. Aufgrund der eingeholten Auskünfte sei davon auszugehen, dass der Kläger seine Verpflichtung zur Sicherstellung und Überwachung der zeitnahen Erstellung, Abgabe und Tilgung der in Rede stehenden Voranmeldungen zu den gesetzlichen Abgabe- und Fälligkeitszeitpunkten schuldhaft verletzt habe. Der Kläger könne sich nicht auf eine entsprechende Pflichtverletzung der Steuerberaterin berufen. Seine Behauptung, die zur Erstellung der Voranmeldungen notwendigen Belege pünktlich übergeben zu haben, sei durch die gegenteiligen schriftlichen Angaben der Steuerberaterin widerlegt.
Entscheidung
Das FG hat dem Kläger Recht gegeben und entschieden, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die dem Kläger vom Finanzamt vorgeworfene und zum Gegenstand der Ermessensausübung gemachte, im Sinne von § 69 AO grob fahrlässige Nichtüberwachung der Steuerberaterin nebst damit grob fahrlässiger Verletzung der Pflicht zur Abgabe und Tilgung der Umsatzsteuervoranmeldungen, zum gesetzlichen Abgabe- und Fälligkeitszeitpunkt bei Abwägung aller Umstände nicht vorliegt.
Nach § 191 Abs. 1 AO kann das Finanzamt einen gesetzlichen Vertreter einer GmbH, den Geschäftsführer (§ 34 AO), durch Haftungsbescheid in Anspruch nehmen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihm auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Verschulden in Form von grober Fahrlässigkeit im Sinne von § 69 Satz 1 AO liegt vor, soweit die verpflichtete Person die Sorgfalt, zu der sie nach ihren persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande gewesen ist, in ungewöhnlich großem Maß verletzt hat.
Beauftragt der Geschäftsführer zur Erledigung der steuerlichen Angelegenheiten der Gesellschaft eine Hilfsperson (z. B. einen Steuerberater) und verletzt dieser die in § 34 AO genannten Pflichten, so muss der Geschäftsführer hierfür nicht ohne weiteres einstehen. Er ist jedoch zur gewissenhaften Auswahl und zur laufenden Überwachung der Hilfsperson verpflichtet, weshalb ihn insoweit ein eigenes Auswahl- oder Überwachungsverschulden treffen kann. Trifft den Geschäftsführer beim Einsatz eines Steuerberaters kein Auswahl- und Überwachungsverschulden und hat er keinen Anlass, an der korrekten Mandatsabwicklung zu zweifeln, so handelt er nicht schuldhaft.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist der Haftungstatbestand des § 69 AO nicht erfüllt, da die vom Finanzamt zum Gegenstand der Haftungsinanspruchnahme gemachte grobe Fahrlässigkeit des Klägers bei der Auswahl und Überwachung der Steuerberaterin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vom Gericht nicht festgestellt werden konnte.
Hinweis
Die Feststellungslast für ein Auswahl- und Überwachungsverschulden trägt regelmäßig die Finanzbehörde. Sonstige, außerhalb des zwischen den Beteiligten allein streitigen Auswahl-, Überwachungs- und Informationsverschuldens des Klägers liegende Vorwürfe im Sinne des § 69 Satz 1 AO, z. B. in Gestalt des grob fahrlässigen Entzugs der zur Tilgung der Verbindlichkeiten im Haftungszeitraum benötigten Liquidität (ggf. auch im Rahmen einer sogenannten "Firmenbestattung" nach Amtsübergabe an den für das Finanzamt unauffindbaren neuen Geschäftsführer) wurden durch das Finanzamt im Streitfall nicht erhoben.
Link zur Entscheidung
Hessisches FG, Urteil v. 15.11.2022, 6 K 1105/21