Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge
Leitsatz (redaktionell)
Auch bei umstrittener Rechtslage, müssen die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen, ohne dass es gerichtlicher Hinweise auf die Rechtsauffassung bedarf.
Normenkette
ArbGG § 78a
Verfahrensgang
Tenor
Die Anhörungsrügen der Beteiligten zu 6. und 7. gegen den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – werden zurückgewiesen.
Tatbestand
I. Der Senat hat auf die Anhörung der Beteiligten vom 21. September 2016 mit einem am selben Tag verkündeten Beschluss festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 17. März 2014 (BAnz. AT 19. März 2014 B1) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 (VTV) in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 3. Dezember 2013 unwirksam ist. Der Beschluss ist den Beteiligten zu 6. und 7. in vollständiger Fassung am 20. Dezember 2016 zugestellt worden. Mit ihren am 22. Dezember 2016 (Beteiligte zu 6.) bzw. am 3. Januar 2017 (Beteiligte zu 7.) eingegangenen Anhörungsrügen machen die Beteiligten zu 6. und 7. die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Bei dem Beschluss handele es sich um eine Überraschungsentscheidung.
Entscheidungsgründe
II. Die nach § 78a Abs. 1, 2 und 8 ArbGG zulässigen Anhörungsrügen der Beteiligten zu 6. und 7. sind unbegründet. Der Senat hat deren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht verletzt.
1. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei kann es in besonderen Fällen geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (BVerfG 4. Juli 2016 – 2 BvR 1552/14 – Rn. 7). Ferner muss ein Prozessbeteiligter schon in den Tatsacheninstanzen bedenken, dass das Bundesarbeitsgericht als Rechtsbeschwerdegericht den Bindungen des Rechtsbeschwerderechts unterliegt und neuer Sachvortrag in der Rechtsbeschwerdeinstanz nach § 98 Abs. 3, § 92 Abs. 2 ArbGG iVm. § 559 ZPO grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig ist (vgl. BAG 25. September 2013 – 5 AZR 617/13 (F) – Rn. 3 mwN [zum Revisionsverfahren]). Im Übrigen ist nicht jeder Verstoß gegen die Hinweispflicht nach § 139 ZPO zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG 15. Mai 1984 – 1 BvR 967/83 – zu II 2 c der Gründe, BVerfGE 67, 90). Die Verletzung gesetzlicher Hinweispflichten stellt nur dann einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, wenn das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt hat. Daher bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (BVerfG 5. April 2012 – 2 BvR 2126/11 – Rn. 19, BVerfGK 19, 377).
2. Nach diesen Grundsätzen bedurfte es weiterer Hinweise des Senats weder zur Frage der Einbeziehung der Großen Einschränkungsklausel bei der Berechnung der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF noch zu der Frage, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung über die AVE dem Beteiligten zu 3. verwertbare Informationen zur Ermittlung der Großen Zahl zur Verfügung gestanden haben. Hinsichtlich der letztgenannten Fragestellung kommt es im Übrigen auf den in den Anhörungsrügen angekündigten Vortrag nicht entscheidungserheblich an.
a) Die Beteiligten zu 6. und 7. bzw. deren Prozessbevollmächtigte mussten auch ohne gerichtliche Hinweise von Beginn des Verfahrens an damit rechnen, dass die beiden in den Anhörungsrügen aufgeworfenen Fragestellungen Gegenstand des Verfahrens werden und von einem Gericht ggf. anders beantwortet werden, als von den Beteiligten zu 6. und 7. erhofft oder erwartet.
aa) Wie der Senat im angegriffenen Beschluss (dort Rn. 203) ausgeführt hat, hatte der Verfahrensbevollmächtigte der Beteiligten zu 1. und 2. bereits in seiner erstinstanzlichen Antragsschrift gerügt, dass bei der Ermittlung der Quote die Große Einschränkungsklausel nicht berücksichtigt werden dürfe, die Zahlen des Beteiligten zu 7. daher unbrauchbar seien und dieser andererseits auch weder wisse noch wissen könne, welche Betriebe und Betriebsabteilungen zwar vom VTV, nicht aber von der AVE erfasst werden. Diesen Vortrag hat er in seiner Rechtsbeschwerdebegründung ausdrücklich wiederholt. Der Beteiligte zu 3. hatte wiederum mitgeteilt, dass die exakte Abbildung des Geltungsbereichs der relevanten Tarifverträge des Baugewerbes schon wegen der Großen Einschränkungsklausel sogar im Rahmen einer direkten Befragung der Betriebe kaum möglich sei. Damit hätte für die Beteiligten zu 6. und 7. hinreichend Anlass bestanden, sich hierzu in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu äußern.
bb) Entgegen der von den Beteiligten zu 6. und 7. vertretenen Auffassung war ein Hinweis auch nicht deshalb erforderlich, weil diese etwa wegen eines gefestigten Verständnisses des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF und/oder einer langjährigen Rechtsprechung davon ausgehen konnten, dass ein anderes als ihr eigenes Verständnis weder für das Landesarbeitsgericht noch für den Senat in Betracht kommen kann. Wie der Senat im Beschluss vom 21. September 2016 (dort Rn. 173 bis 183) ausführlich dargelegt hat, entsprach das von den Beteiligten zu 6. und 7. vertretene Verständnis des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF vielmehr weder einer gefestigten Rechtsprechung noch einer einheitlichen oder auch nur überwiegenden Auffassung im Schrifttum. Deshalb musste es ohne weitere gerichtliche Hinweise naheliegen, bereits in der Tatsacheninstanz beim Landesarbeitsgericht zumindest vorsorglich Tatsachenvortrag für den Fall zu halten, dass ein Gericht die Auffassung der Beteiligten zu 6. und 7. nicht teilen sollte.
cc) Der Vorsitzende des Zehnten Senats hat darüber hinaus die Beteiligten vor der mündlichen Anhörung mit Schreiben vom 8. September 2016 (dort Ziff. 5 2. Spiegelstrich) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ermittlung der Großen Zahl und das Thema „verwertetes/verwertbares Zahlenmaterial” und dessen gerichtliche Überprüfung Gegenstand der Anhörung sein würden. Spätestens damit musste für die Beteiligten bzw. deren Prozessbevollmächtigte erkennbar sein, dass in der mündlichen Anhörung die Ermittlung der Großen Zahl – die im Übrigen einen Kern des gesamten Streites bildet – von Bedeutung sein würde, unabhängig davon, wie das Landesarbeitsgericht sich zu dieser Frage positioniert hat.
b) In der mehrstündigen mündlichen Anhörung vor dem Senat am 21. September 2016 sind die in den Anhörungsrügen angesprochenen Fragestellungen umfänglich vom Senat angesprochen worden und alle Beteiligten hatten Gelegenheit, in dem von ihnen gewünschten Umfang dazu Stellung zu nehmen.
aa) In der Anhörung ist in rechtlicher Hinsicht zunächst ausführlich das Verständnis von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF und dabei insbesondere die Frage diskutiert worden, ob und inwieweit die Große Einschränkungsklausel Berücksichtigung finden kann. Diese rechtliche Erörterung räumt auch der Beteiligte zu 7. (S. 11 Anhörungsrüge) ein. Selbstverständlich bot sie deutlichen Anlass, auch mögliche rechtliche und tatsächliche Folgen des Gesetzesverständnisses einzubringen und zu erörtern. Deshalb hat der Senat nachfolgend umfänglich die Frage des zum Zeitpunkt der Entscheidung über die AVE zur Verfügung stehenden Zahlenmaterials erörtert, beispielsweise ua. auch im Hinblick auf die dem Beteiligten zu 7. zur Verfügung stehenden Zahlen über Betriebe, welche Leistungen nach der Winterbeschäftigungs-Verordnung erhalten (vgl. Beschluss vom 21. September 2016 Rn. 205).
bb) Soweit die Justiziarin der zu 6. beteiligten Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Frau C, in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 22. Dezember 2016 erklärt, der Senat habe die Frage, „ob die Zahl der Arbeitnehmer von Betrieben, die zwar unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV fallen, auf die sich aber aufgrund einer Einschränkungsklausel die Allgemeinverbindlicherklärung nicht erstreckt, ermittelt oder geschätzt werden kann”, nicht erörtert, ist dies objektiv falsch und entspricht nicht dem Inhalt und dem Ablauf der Anhörung vom 21. September 2016. Gleiches gilt hinsichtlich der Ausführungen in der eidesstattlichen Versicherung des Referenten in der Abteilung Justiziariat des Beteiligten zu 7., Herrn Z, (dort S. 1, 3. Absatz), die allerdings deutlich vorsichtiger formuliert sind „nach meiner Kenntnis”).
c) Unabhängig davon, dass weiter gehende Hinweise des Senats und weiter gehende Erörterungen des Sachverhalts aus den genannten Gründen nicht erforderlich waren, wäre es auf den Vortrag, den die Beteiligten zu 6. und 7. für den Fall der Erteilung weiter gehender Hinweise angekündigt haben, nach der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des Senats nicht entscheidungserheblich angekommen.
aa) Wie im Beschluss vom 21. September 2016 (dort Rn. 190) ausgeführt ist, sind Maßstab für die gerichtliche Kontrolle einer AVE und des Vorliegens derer tatsächlicher Voraussetzungen allein die zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen. Eine nachträgliche Erhebung oder statistische Aufbereitung von Daten mit dem Ziel, diese zu einem Zeitpunkt nach der ministeriellen Entscheidung verwendbar zu machen, scheidet aus. Deshalb konnten für die Entscheidung des Senats nur zum Zeitpunkt der ministeriellen Entscheidung im Jahre 2014 objektiv zur Verfügung stehende und bereits verwertbare Informationen berücksichtigt werden.
bb) Auf den entsprechenden Vortrag in den Anhörungsrügen (S. 8 ff. Beschwerdebegründung der Beteiligten zu 6. bzw. S. 14 ff. der Beschwerdebegründung des Beteiligten zu 7.) wäre es deshalb nicht entscheidungserheblich angekommen. Vielmehr wird dort gerade dargelegt, dass erst nach der Anhörung vom 21. September 2016 ein Auftrag des Vorstandes des Beteiligten zu 7. am 22. September 2016 ergangen sei, die Auswertung bestimmter Akten zu veranlassen und bestimmte Zahlen zu ermitteln. Dies wird durch den Leiter der Abteilung Justiziariat des Beteiligten zu 7., Herrn V, ausdrücklich an Eides statt versichert. Im Rügeverfahren – 10 ABR 78/16 (F) – hat der Referent in der Abteilung Justiziariat des Beteiligten zu 7., Herr Z, an Eides statt versichert, dass die Auswertung nach dem 21. September 2016 sofort in die Wege geleitet wurde und zum Zeitpunkt der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung am 16. Dezember 2016 noch nicht abgeschlossen war. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beteiligten zu 3. im Jahre 2014 über die streitgegenständliche AVE haben die nunmehr vorgetragenen Zahlen – unabhängig von deren Bewertung – damit weder beim Beteiligten zu 3. in verwertbarer und verwendbarer Form vorgelegen noch hat der Beteiligte zu 3. diese vor der Entscheidung bei den tarifvertragsschließenden Parteien oder beim Beteiligten zu 7. angefordert. Auf die Frage, ob und ggf. auf welche Weise nachträglich Daten hätten erhoben oder vorhandene Daten nachträglich hätten ausgewertet werden können, kommt es nach der Rechtsauffassung des Senats nicht an.
d) Soweit die Beteiligten zu 6. und 7. darüber hinaus vortragen, dass bei Arbeitgeberverbänden bzw. beim Statistischen Bundesamt vorhandene Zahlen eine geeignete Schätzgrundlage für die Ermittlung der Großen Zahl hätten darstellen können, hat sich der Senat hiermit im Beschluss vom 21. September 2016 (dort Rn. 199 bzw. Rn. 195 bis 197) bereits auseinandergesetzt. Die Beteiligten zu 6. und 7. vertreten insoweit eine andere Auffassung über die Brauchbarkeit dieser Zahlen als der Senat; dies kann den Erfolg einer Anhörungsrüge nicht begründen. Gleiches gilt hinsichtlich der Ausführungen des Beteiligten zu 7. zur Kleinen Zahl (S. 41 f. Beschwerdebegründung), da es auf die insoweit aufgezeigten Mängel nicht entscheidungserheblich ankommt (Beschluss vom 21. September 2016 Rn. 218).
Unterschriften
Linck, Brune, W. Reinfelder, Frese, Schumann
Fundstellen