Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung wegen tätlichen Angriffs auf einen Arbeitskollegen - Anforderungen an die Betriebsratsanhörung
Orientierungssatz
Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß sich ein Arbeitgeber bei der Formulierung einer Abmahnung in der Regel mit dem Sachverhalt angemessenen Formulierungen begnügt, das gerügte Fehlverhalten also nicht mit negativeren Bewertungen kennzeichnet, als sie gemessen an seinem Kenntnisstand objektiv gerechtfertigt wären. Ebensowenig gibt es einen Erfahrungssatz dahin, daß ein Arbeitgeber bei der Betriebsratsanhörung zu einer Kündigung wegen Tätlichkeiten vorausgegangene Provokationen regelmäßig beschönigt und verharmlost.
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 08.02.1994; Aktenzeichen 11 Sa 1112/93) |
ArbG Köln (Entscheidung vom 01.06.1993; Aktenzeichen 6 Ca 6876/92) |
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen und einer vorsorglichen fristgerechten Arbeitgeberkündigung als Reaktionen auf eine Tätlichkeit des Klägers gegenüber einem Arbeitskollegen im Betrieb sowie um die Verpflichtung der Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers. Streitig ist insbesondere die Wirksamkeit der Betriebsratsanhörungen vor Ausspruch der Kündigungen.
Der am 1. Februar 1970 geborene Kläger war seit dem 8. Mai 1989 bei der Beklagten, die in der Regel mehr als fünf Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt, als Arbeiter zu einem monatlichen Bruttolohn von ca. 3.500,– DM tätig.
Am 31. August 1992 kam es während der Pause in der Kantine zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und seinem Arbeitskollegen K, im Verlaufe derer der Kläger dem Mitarbeiter zweimal ins Gesicht schlug. Im Hinblick darauf kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis noch am gleichen Tage fristlos. Diese Kündigung wurde später mit Einverständnis des Klägers zurückgenommen.
Mit Schreiben vom 4. September 1992 kündigte die Beklagte nach Anhörung des Betriebsrats das Arbeitsverhältnis erneut fristlos. Ferner kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 17. November 1992 vorsorglich fristgerecht zum 31. Dezember 1992. Zuvor hatte die Beklagte den Betriebsrat am 11. November 1992 zu der Kündigungsabsicht schriftlich angehört. Die beigefügte Anlage lautet:
„Am 31.8.1992 ereignete sich folgender Vorfall:
Der Mitarbeiter K, ein Kollege aus der Produktion saß ebenso wie Herr O in der Kantine, jedoch an einem anderen Tisch. Herr K nahm, ohne das Herr O dies bemerkte, diesem seine neben ihm liegende Zeitung weg.
Als Herr O dies bemerkte, brüllte er Herrn K – an: „Du dummes Schwein” gib sofort die Zeitung her.
Herr K warf Herrn O daraufhin die Zeitung zu, die jedoch vor seinen Füßen landete. Daraufhin erhob sich Herr O und schlug ohne Vorwarnung Herrn K zunächst unter das Kinn und danach in den Bereich der Schläfe. Herr K –mußte sich daraufhin setzen, da er sich durch die Schläge bedingt nicht mehr auf seinen Beinen halten konnte.
Erst durch das Eingreifen anderer Mitarbeiter wurde der Kläger davon abgehalten, Herrn K weiter anzugreifen.
Wir haben Herrn O von der Arbeit freigestellt und beabsichtigen eine fristgemäße Kündigung per 31.12.1992 auszusprechen.”
Mit seiner am 17. September 1992 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger sich gegen die fristlose Kündigung vom 4. September 1992 gewandt und mit seinem am 25. November 1992 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz gegen die ordentliche Kündigung vom 17. November 1992. Ferner hat er Weiterbeschäftigung begehrt.
Der Kläger hat geltend gemacht, vor Ausspruch der fristlosen Kündigung sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden; insbesondere sei er nicht umfassend informiert worden. Nicht durch den Zeugen Ke sei der Betriebsrat von dem Vorfall informiert worden, sondern durch den Kläger selbst. Herr Ke habe lediglich das Anhörungsschreiben dem Betriebsrat übergeben und gesagt, man könne an der Kündigung nichts machen. Im übrigen fehle es an substantiierten Ausführungen der Beklagten zum Anhörungsverfahren. Auch zur ordentlichen Kündigung sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß gehört worden.
Zudem sei ein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung nicht gegeben. Herr K habe ihn nämlich provoziert, indem er ihm während der Pause in der Kantine widerrechtlich die Zeitung weggenommen und auf seine Aufforderung, ihm die Zeitung zurückzugeben („Meine Pause ist zu Ende. Gib meine Zeitung her]”), diese Zeitung auf den Boden geschmissen habe. Er habe daraufhin die Beherrschung verloren und Herrn K an den Kopf geschlagen. Dieser habe ihn dann am Revers gepackt und mit aller Wucht gegen die Geschirrtheke der Kantine gestoßen. Im Reflex habe er nochmals zugeschlagen.
Die Beklagte versuche den Eindruck zu erwecken, als wenn Herr K ein friedlicher Kollege sei, der gelegentlich zu Scherzen aufgelegt sei. Als Neckerei könne es z.B. nicht angesehen werden, daß Herr K ein bis zwei Monate vor dem besagten Vorfall am 31. August 1992 mit einem Gabelstapler bewußt auf ihn, den Kläger, zugefahren sei. Als er nach diesem Zwischenfall zu seinem Arbeitsplatz habe zurückgehen wollen, habe Herr K ihn aufgefordert, mit nach draußen zu gehen, um eine Schlägerei zu beginnen, was er jedoch empört abgelehnt habe. Darauf habe Herr K weiter versucht, ihn zu einer Schlägerei zu provozieren, indem er zu ihm gesagt habe: „Ich ficke deine Mutter]”. Als er darauf nicht reagiert habe, habe Herr K geäußert: „Wenn zu mir das einer sagen würde, würde ich mit dem sofort nach draußen gehen]”.
Angesichts der von der Beklagten verharmlosend dargestellten Provokationen sei auch die ordentliche Kündigung sozial ungerechtfertigt.
Der Kläger hat beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die schriftliche Kündigung vom 04.09.1992, zugegangen am 05.09.1992, nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 05.09.1992 hinaus weiter ungekündigt fortbesteht;
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien auch durch die schriftliche Kündigung der Beklagten vom 17.11.1992, zugegangen am 17.11.1992, zum 31.12.1992 nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 31.12.1992 hinaus weiterhin ungekündigt fortbesteht;
- im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterhin zu beschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, am 31. August 1992 habe der Mitarbeiter K in der Kantine an einem anderen Tisch als der Kläger gesessen. Bereits zuvor hätten sich beide des öfteren gegenseitig geneckt. An diesem Tag habe Herr K, ohne daß der Kläger dies gemerkt habe, ihm seine neben ihm liegende Zeitung weggenommen und darin demonstrativ gelesen. Als der Kläger dies bemerkt habe, habe er Herrn K auf türkisch angebrüllt: „Du dummes Schwein, gib sofort die Zeitung her”. Herr K habe dem Kläger die Zeitung zugeworfen, die jedoch vor seinen Füßen gelandet sei. Daraufhin habe sich der Kläger erhoben und habe Herrn K ohne Vorwarnung zunächst unter das Kinn und danach in den Bereich der Schläfe geschlagen. Herr K habe sich setzen müssen, da er sich, durch die Schläge bedingt, nicht mehr auf den Beinen habe halten können. Erst durch das Eingreifen anderer Mitarbeiter sei der Kläger davon abgehalten worden, den Zeugen weiter anzugreifen. Aufgrund der Schläge an den Kopf habe Herr K ein bis zwei Wochen erhebliche Kopfschmerzen gehabt.
Als der Betriebsleiter Ke von dem Vorfall erfahren habe, habe er den Kläger zur Rede gestellt. Dieser habe keinerlei Reue gezeigt, sondern erklärt: „Dem habe ich richtig eine geschmiert, der muß aufpassen, daß ich ihn heute abend nicht abpasse und er noch eine kriegt”.
Herr Ke habe dem Betriebsratsvorsitzenden am 31. August 1992 diesen Sachverhalt mündlich geschildert. Zu der vorgesehenen Kündigung des Klägers habe sich der Betriebsrat innerhalb der Frist nicht geäußert.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, das Verhalten des Klägers stelle einen Grund für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Es sei der Beklagten nicht zuzumuten, einen Mitarbeiter weiterzubeschäftigen, der auf Neckereien von Kollegen mit Gewalt reagiere.
Bereits im Oktober 1990, so der weitere Vortrag der Beklagten, sei der Kläger wegen eines Raufhandels - allerdings außerhalb des Arbeitsplatzes während seiner Freizeit - aufgefallen. Für den sich anschließenden Zeitraum einer Arbeitsunfähigkeit sei ihm keine Lohnfortzahlung gewährt worden, da die Arbeitsunfähigkeit eben Folge des Raufhandels gewesen sei.
Auch zu der vorsorglichen fristgerechten Kündigung sei der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden. Der Betriebsrat habe der Kündigung vor Ausspruch zugestimmt.
Herrn K sei unter dem 17. September 1992 folgende Abmahnung erteilt worden:
„Abmahnung
Sehr geehrter Herr K ,
Sie waren am 31.08.92 in der Kantine des Milchwerks in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt, wobei Ihr Kollege Herr O Ihnen einen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Obwohl Sie nicht zurückgeschlagen haben, waren Sie der auslösende Faktor dieser Auseinandersetzung. Permanent haben Sie Tage vorher Herrn O gereizt und beleidigt.
Dies ist keine Entschuldigung für die Tätlichkeit des Herrn O, ist aber für uns Anlaß, Sie eindringlich zu ermahnen, sich Ihren Arbeitskollegen gegenüber korrekt und kollegial zu verhalten. Sollte sich ein solcher oder vergleichbarer Fall wiederholen, werden wir das Arbeitsverhältnis mit Ihnen lösen müssen.
Der Betriebsrat erhält eine Kopie dieses Schreibens.
Mit freundlichen Grüßen
Milchwerke eG”
Zu dem vom Kläger geschilderten angeblichen Vorfall ein bis zwei Monate vor dem 31. August 1992 könne die Beklagte sich nicht äußern, da sie hiervon nichts gewußt habe. Der Kläger habe dies seinen Vorgesetzten nicht gemeldet und auch nicht gegenüber Herrn Ke erwähnt. Abgesehen davon wäre es auch bei einer Provokation nicht Sache des Klägers gewesen, Selbstjustiz zu üben und dadurch andere Mitarbeiter zu verletzen.
Das Arbeitsgericht hat zur Frage der Betriebsratsanhörung den Zeugen Ke vernommen und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht dieses Urteil abgeändert und nach den Klageanträgen erkannt.
Mit der zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 565 Abs. 1 ZPO).
I.
Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Wirksamkeit beider Kündigungen scheitere an einer unzureichenden Anhörung des Betriebsrats. Dies ergebe sich bereits aus dem eigenen Vortrag der Beklagten. Zweifelhaft sei schon, ob die Beklagte ihrer Darlegungspflicht zum Inhalt der Betriebsratsanhörung am 31. August 1992 mit der bloßen Bezugnahme auf die im Schriftsatz enthaltene Schilderung des Kündigungssachverhalts einschließlich Vorgeschichte und Nachverhalten hinreichend substantiiert nachgekommen sei. Selbst wenn man die Bezugnahme aber als ausreichend ansehe, sei dem Betriebsrat jedenfalls nicht mitgeteilt worden, daß aus Sicht der Beklagten Herr K der eigentlich auslösende Faktor des Geschehens am 31. August 1992 gewesen sei, und daß er Tage zuvor den Kläger permanent gereizt und beleidigt habe. Das habe die Beklagte aber schon zum Zeitpunkt der fristlosen Kündigung gewußt, wie sich aus dem Abmahnungsschreiben vom 17. September 1992 ergebe und aus der Einlassung der Beklagten im Termin vom 8. Februar 1994, ihr Kenntnisstand sei am 17. September 1992 kein anderer gewesen als am 4. September 1992. Wenn die Beklagte demgegenüber lediglich mitgeteilt habe, der Kläger und Herr K hätten sich bereits zuvor des öfteren gegenseitig geneckt, so habe sie damit den Eindruck erweckt, der Kläger und Herr K hätten zuvor einen harmlosen, nahezu freundschaftlichen, durchaus positiven Umgang gepflegt. Zwar sei aus der Sicht der Beklagten für ihren Kündigungsentschluß allein maßgeblich gewesen, daß der Kläger Herrn K geschlagen hatte, ohne Rücksicht darauf, wie das Verhältnis der beiden sich vor dem Vorfall dargestellt hatte; insofern habe die Beklagte den Betriebsrat zunächst grundsätzlich vollständig unterrichtet. Die Unvollständigkeit der Unterrichtung ergebe sich hier aber aus der irreführenden Darstellung des Verhältnisses des Klägers zu Herrn K, welche möglicherweise dazu geführt habe, daß der Betriebsrat zu einer anderen Beurteilung und Beschlußfassung gekommen sei, als er bei vollständiger Kenntnis der Umstände gekommen wäre. Dies mache die Anhörung des Betriebsrats fehlerhaft, woran auch das Gespräch des Klägers mit dem Betriebsratsvorsitzenden nichts ändere. Daß der Betriebsrat insofern aus anderer Quelle über den erforderlichen Kenntnisstand verfügt habe, habe die Beklagte nicht spezifiziert vorgetragen; im übrigen komme es nicht allein auf den Kenntnisstand des Betriebsrats, sondern darauf an, ob die Beklagte vor Durchführung des Anhörungsverfahrens von den anderweitigen Informationen des Betriebsrats gewußt habe.
Da die Beklagte keine Tatsachen vorgetragen habe, aus denen auf einer vorläufigen Weiterbeschäftigung entgegenstehende überwiegende Interessen geschlossen werden könne, habe der Kläger auch Anspruch auf Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsschutzprozesses.
II.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand. Der vom Landesarbeitsgericht festgestellte Sachverhalt rechtfertigt nicht die Annahme, die Anhörungen des Betriebsrats seien nicht ordnungsgemäß erfolgt.
1. Die Klage ist zulässig. Da der Kläger beide Kündigungen gesondert angegriffen hat und die Begründung seiner Anträge sich von Anfang an ausschließlich mit der Wirksamkeit dieser Kündigungen auseinandersetzte, umfassen die Anträge jeweils allein den punktuellen Streitgegenstand der §§ 4, 7 KSchG (vgl. BAG Urteil vom 16. März 1994 - 8 AZR 97/93 - AP Nr. 29 zu § 4 KSchG 1969, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Urteil vom 26. Mai 1994 - 8 AZR 248/93 -, n.v.). Dies hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 9. März 1995 auch nochmals ausdrücklich klargestellt. Auf ein besonderes rechtliches Interesse nach § 256 Abs. 1 ZPO für eine weitergehende Feststellung kommt es demnach nicht an.
2. Ob die fristlose Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB bzw. die ordentliche Kündigung gemäß § 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 KSchG wirksam ist, kann der Senat nicht entscheiden, weil das Landesarbeitsgericht die vorausgegangenen Betriebsratsanhörungen mit einer nicht haltbaren Begründung für unwirksam erachtet und folgerichtig zur materiellrechtlichen Wirksamkeit der Kündigungen noch keine Stellung genommen hat.
Das Landesarbeitsgericht geht zwar zunächst zutreffend davon aus, daß gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören ist, wobei ihm der Arbeitgeber die Gründe für die Kündigung mitzuteilen hat; eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landesarbeitsgericht auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts angenommen, bewußt unrichtige oder unvollständige Sachverhaltsangaben gegenüber dem Betriebsrat, durch die bei diesem ein falsches Bild über den Kündigungssachverhalt entsteht, machten die Anhörung und damit auch die nachfolgende Kündigung unwirksam (vgl. Senatsurteile vom 11. Juli 1991 - 2 AZR 119/91 - AP Nr. 57 zu § 102 BetrVG 1972; vom 16. September 1993 - 2 AZR 267/93 - AP Nr. 62 zu § 102 BetrVG 1972, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vom 22. September 1994 - 2 AZR 31/94 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, m.w.N.). Mit Recht rügt die Revision aber, das Landesarbeitsgericht habe vorliegend eine solch bewußte Fehlinformation ohne ausreichende Tatsachenfeststellungen angenommen.
Ob das Landesarbeitsgericht für den Senat gemäß § 561 Abs. 2 ZPO bindend festgestellt hat, die Beklagte habe dem Betriebsrat bei dessen Anhörung zu der fristlosen Kündigung mitteilen lassen, der Kläger und sein Kollege K hätten sich zuvor beide des öfteren gegenseitig geneckt, dabei sei der Kenntnisstand der Beklagten am 4. September 1992 auch hinsichtlich des Umfelds des Geschehens und der Zusammenhänge kein anderer gewesen als im Zeitpunkt der Abmahnung vom 17. September 1992 gegenüber dem Arbeitnehmer K, kann dahinstehen. Die weiteren Schlußfolgerungen des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe also gewußt, daß der Kläger von seinem Kollegen K schon Tage vor dem 31. August 1992 permanent gereizt und beleidigt worden sei, habe dies aber dem Betriebsrat verschwiegen bzw. mit der Umschreibung als gegenseitiges „Necken” bewußt verharmlost, sind nämlich nicht zwingend. Für eine bewußte Irreführung des Betriebsrats durch den Arbeitgeber spricht nicht schon eine eventuell mißglückte Wortwahl. Der Kläger selbst hat demgemäß vorliegend eine solch bewußte Irreführung des Betriebsrats gar nicht behauptet. Auch gibt es keinen Erfahrungssatz, daß sich ein Arbeitgeber bei der Formulierung einer Abmahnung in der Regel mit dem Sachverhalt angemessenen Formulierungen begnügt, das gerügte Fehlverhalten also nicht mit negativeren Bewertungen kennzeichnet, als sie gemessen an seinem Kenntnisstand objektiv gerechtfertigt wären. Ebensowenig gibt es einen Erfahrungssatz dahin, daß ein Arbeitgeber bei der Betriebsratsanhörung zu einer Kündigung wegen Tätlichkeiten vorausgegangene Provokationen regelmäßig beschönigt und verharmlost. Wenn das Landesarbeitsgericht vorliegend gleichwohl von einer den Betriebsrat bewußt irreführenden Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Kläger und seinem Kollegen K ausgeht, bewegt es sich, wie die Revision mit Recht rügt, im Bereich bloßer Spekulation. Da unbestritten die Vorgesetzten des Klägers der türkischen Sprache nicht mächtig waren und der Kläger weder zu einem früheren Zeitpunkt noch am 31. August 1992 seine Vorgesetzten über bösartige und beleidigende Provokationen seitens seines Kollegen K in Kenntnis gesetzt hatte, erscheint es durchaus möglich, daß die Beklagte am 4. und auch noch am 17. September 1992 über Einzelheiten und Inhalt der Provokationen nichts wußte, aber trotz deren Einordnung als bloße „Neckereien” den Arbeitnehmer K „drastisch” abmahnen wollte, um weitere Vorfälle wie den vom 31. August 1992 unbedingt und schon im Ansatz zu unterbinden. Dies gilt um so mehr, als die Bedeutung des Wortes „necken” durchaus auch eine „bösartige” Komponente mitumfassen kann (vgl. die Synonyme „sticheln” in Duden, Bedeutungswörterbuch, 2. Aufl., Bd. 10, S. 462 oder „ärgern” in Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, S. 813). Jedenfalls ist der Spielraum der Wortbedeutung nicht auf völlig harmlose Scherze beschränkt, die eine ernsthafte Verärgerung des „Geneckten” ausschließen bzw. als ganz fernliegende Überreaktion erscheinen lassen.
3. Da der vom Landesarbeitsgericht festgestellte Sachverhalt die Schlußfolgerung einer bewußten Irreführung des Betriebsrats über das Verhältnis des Klägers zu seinem Kollegen K nicht rechtfertigt, ist das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 ZPO).
Die Bedenken des Landesarbeitsgerichts, es könnte bereits an einer ausreichenden Darlegung der Betriebsratsanhörung durch die Beklagte fehlen, teilt der Senat nicht. Die Bezugnahme im Schriftsatz vom 29. Oktober 1992 auf die vorherige Schilderung des Kündigungssachverhalts ist hinreichend bestimmt, hiervon ausgehend konnte das Arbeitsgericht durch Vernehmung des angebotenen Zeugen Ke Beweis erheben. Im übrigen würde ein unzureichender Sachvortrag der Beklagten das Landesarbeitsgericht nicht davon entbinden, das Ergebnis der gleichwohl durchgeführten Beweisaufnahme zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 19. Aufl., § 286 Rz 2), zumal die Beklagte sich den Inhalt der ihr günstigen Aussage des Zeugen stillschweigend zu eigen gemacht hat.
Ergibt die Beweiswürdigung oder eine ergänzende Beweisaufnahme, daß dem Betriebsrat bei der Anhörung am 31. August 1992 über zurückliegende „Neckereien” nichts mitgeteilt wurde, kommt es für die fristlose Kündigung, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, auf den diesbezüglichen Kenntnisstand der Beklagten nicht an, denn aus der Sicht der Beklagten war für ihre Kündigungsentscheidung allein maßgebend, daß der Kläger seinen Arbeitskollegen K geschlagen hat, nicht aber das Verhältnis der beiden Arbeitnehmer vor der Tätlichkeit. Anderenfalls wird die Beklagte ihren Vortrag, bis zum Erhalt des Schriftsatzes vom 29. Dezember 1992 habe sie von vorausgegangenen bösartig-beleidigenden Provokationen des Klägers durch seinen Kollegen K keine Kenntnis gehabt, unter Beweis zu stellen haben, sofern der Kläger dies bestreitet (vgl. Senatsurteil vom 22. September 1994 - 2 AZR 31/94 -, aaO). Dies gilt auch für die Anhörung zur vorsorglichen ordentlichen Kündigung, soweit es auf diese ankommt. Sollte die Behauptung der Beklagten unbestritten bleiben oder bewiesen werden, wären die Betriebsratsanhörungen jedenfalls nicht wegen einer bewußten Irreführung des Betriebsrats durch den Arbeitgeber unwirksam.
Hiervon ausgehend wird das Landesarbeitsgericht die Wirksamkeit der Betriebsratsanhörungen neu zu prüfen und ggf. auch zu berücksichtigen haben, daß der Kläger die Richtigkeit der Aussage des Zeugen Ke teilweise bestritten und zum Gegenbeweis den Betriebsratsvorsitzenden Ki als Zeugen benannt hat. Mit Recht hat der Kläger gerügt, das Arbeitsgericht habe von seinem Standpunkt aus diesen Gegenbeweis nicht übergehen dürfen. Das Landesarbeitsgericht wird deshalb ggf. die Vernehmung des Zeugen Ki nachholen müssen.
Sollte sich danach die Betriebsratsanhörung am 31. August 1992 oder jedenfalls die vom 11. November 1992 als wirksam erweisen, wird das Landesarbeitsgericht bei der Prüfung der materiell-rechtlichen Wirksamkeit der fristlosen bzw. der fristgerechten Kündigung die Rechtsprechung des Senats zu berücksichtigen haben, wonach Tätlichkeiten gegenüber Arbeitskollegen grundsätzlich geeignet sind, ohne vorherige Abmahnung einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung abzugeben (vgl. Urteil vom 12. März 1987 - 2 AZR 176/86 - AP Nr. 47 zu § 102 BetrVG 1972; vom 31. März 1993 - 2 AZR 492/92 - AP Nr. 32 zu § 626 BGB Ausschlußfrist, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) bzw. eine ordentliche Kündigung sozial zu rechtfertigen (vgl. Urteil vom 12. Juli 1984 - 2 AZR 320/83 - AP Nr. 32 zu § 102 BetrVG 1972; vom 31. März 1993 - 2 AZR 492/92 -, aaO).
4. Da das angegriffene Urteil hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit der streitigen Kündigungen keinen Bestand hat, entfällt auch eine Grundlage für den Anspruch des Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung. Auf die Frage, ob die Beklagte überwiegende entgegenstehende Interessen dargelegt hat, kommt es für die Entscheidung des Senats deshalb nicht mehr an, vielmehr unterfällt auch der Weiterbeschäftigungsanspruch der Zurückverweisung und das Landesarbeitsgericht wird über ihn neu zu befinden haben.
Unterschriften
Etzel, Bitter, Fischermeier, Strümper, Piper
Fundstellen
NJW 1995, 3005 |
NJW 1995, 3005-3007 (ST) |
WiB 1995, 635 (S) |
NZA 1995, 678 |
NZA 1995, 678-680 (ST1) |
NV, (nicht amtlich veröffentlicht) |